Die Verlierer der Bundestagswahl

Was für ein Spektakel!

Warum Jürgen W. Möllemann und Herta Däubler-Gmelin bei der Bundestagswahl gescheitert sind.

In der linksradikalen Ideologiekritik politisch-medialer Phänomene gibt es seit geraumer Zeit zwei Strömungen. Die eine konzentriert sich unmittelbar auf die Phänomene und versucht, aus gegebenen Fakten den weiteren Gang der Entwicklung abzuleiten. Meistens wird alles schlimmer. Jürgen W. Möllemann, Herta Däubler-Gmelin, Gerhard Schröders schroffes Nein zur US-amerikanischen Irak-Politik - all das seien Indizien dafür, dass bald wieder ein faschistisches Regime drohe. Deutschland werde immer nationalistischer, antisemitischer und antiamerikanischer.

Die andere ideologiekritische Strömung registriert das mit einem anarchistischen Achselzucken: Es sei doch sowieso alles Spektakel, eine kulturindustrielle Inszenierung, in der die großen Kapitalfraktionen die Fäden in der Hand hielten. Möllemann dürfe so antisemitisch sein, wie er nun mal ist. Wenn er der deutschen Außenhandelsbilanz schade, müsse er abdanken.

Die Schwäche der einen Strömung ist die Stärke der anderen. Was soll das ganze Gerede von Spektakel, Kulturindustrie und allgemeiner Entwicklungstendenz des Kapitals, wenn ganz real antisemitische und rassistische Übergriffe nicht nur zum deutschen Alltag gehören, sondern beständig zunehmen - unterstützt nicht zuletzt durch Äußerungen auf eben jener politisch-medialen Ebene?

Aber wie geht die erste Strömung damit um, dass Möllemanns Demagogie die FDP entscheidende Punkte kostet und dass Däubler-Gmelin mit ihrer Bush-Hitler-Strukturanalyse auf so deutlichen Widerstand stößt? Sind diese Vorgänge nicht Beweise dafür, dass es den antisemitischen bzw. antiamerikanischen Durchmarsch nicht gibt? Muss man nicht wieder über grundsätzliche Perspektiven wie die anarchistische reden, aus der, von kleinen Unterschieden abgesehen, jede Bundestagswahl dasselbe Spektakel ist?

Beide Strömungen können für sich Evidenz beanspruchen und so die jeweils andere ausstechen. Das Ergebnis aber ist eine allgemeine Paralyse. Die Schwäche beider Gruppen ist, dass sie es offensichtlich unterlassen, völkische und kulturindustrielle Elemente innerhalb der politisch-medialen Phänomene als Einheit zu begreifen. Tatsächlich muss man von einer Synthese sprechen, einem Amalgam, dessen Konsistenz es unmöglich macht, das eine vom anderen zu trennen. Was könnten also die Gründe dafür sein, dass Möllemann und Däubler-Gmelin gescheitert sind und abserviert wurden?

Möllemann, der in der Endphase des Wahlkampfes gegen alle Absprachen mit dem Parteivorstand noch mal so richtig vom Leder zog, noch dazu mit einem Faltblatt (Faltblätter kriegt man ja sonst nur von der DVU in den Briefkasten geworfen), erinnerte an die Figur des autoritären Rebellen: Er ist getrieben, muss - against all odds - unbedingt sofort handeln und ist sich dabei keiner Schuld bewusst. Aber er reagiert trotzig, wenn er zur Verantwortung gezogen wird. »Wurde antisemitische Gesinnung laut, so fühlte sie sich als bürgerlich und aufsässig zugleich«, schreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer »Dialektik der Aufklärung« über jene antiliberalen Liberalen.

Die Rolle des Demagogen verträgt sich aber nicht mit der Inszenierung der Bundestagswahl. Dieses Spektakel vereint zwei Elemente, dieses Jahr sogar in besonders klarer Form. Einerseits ist die Wahl Kulturkampf, Richtungswahl, die »konservative strukturelle Mehrheit« tritt an gegen die »linke kulturelle Hegemonie«. Andererseits bekräftigt jede Wahl immer wieder bloß den parlamentarischen, verfassungsgemäßen Konsens und verpflichtet die Parteien auf dessen Einhaltung.

Wer sich die Kommentare und die Berichte vor der Wahl noch einmal anguckt, merkt ihnen dieses Widersprüchliche an. Sie sind haarspalterisch langweilig oder sensationslüstern pathetisch. Man weiß, wie wenig sich ändern wird, spricht aber davon, dass mal wieder alles auf dem Spiel steht.

Der Kulminationspunkt ist das Kandidatenduell: ein zutiefst undemokratisches, seiner Form nach rein populistisch-propagandistisches Ritual, in dem aber doch die Kontrahenten in jedem Satz sich auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung (FDGO) vereidigen.

Für einen Demagogen wie Möllemann, der sich auf diese Balance aus großspurigem Gehabe und versöhnlichem Gestus nicht einlassen will und auch nicht kann, ist kein Platz. Seine Chance bestünde einzig darin, in einer Art »Marsch auf Berlin« die Macht putschistisch an sich zu reißen. Jörg Haider, Jean-Marie Le Pen und Silvio Berlusconi machen das vor - sie kündigen den Konsens auf und agieren mal mehr, mal weniger offen faschistisch.

In der sozialpartnerschaftlich befriedeten Bundesrepublik ist dieses Vorgehen aber nicht möglich. Antisemitismus wird in Deutschland auf der politisch-medialen Ebene nur dann positiv bewertet, wenn er in den Konsens der FDGO eingebunden ist: als staatsmännische Haltung gegenüber Israel (»Wir Deutschen, die wir aus unserer Vergangenheit gelernt haben«), als gepflegtes, öffentliches Gespräch zwischen Schröder und Martin Walser, als linke Menschenrechtspolitik. Deshalb wirkt Möllemann so visionär wie hoffnungslos antiquiert. Momentan wirkt er allerdings nur noch antiquiert.

Herta Däubler-Gmelin ist etwas Ähnliches passiert. Sie hat vergessen, dass in einer derart personalisierten Inszenierung, in der - klassisch infantil - noch der weit entfernte Präsident George W. Bush sich persönlich von Schröders Populismen beleidigt fühlt, ihre Art von linker Ideologiekritik nicht funktioniert. Linke Ideologiekritik? Tatsächlich, denn wenn sie behauptet, sie habe nicht die Personen Bush und Hitler miteinander verglichen, sondern eine bestimmte Handlungsmethode bei beiden erkannt, dann zitiert sie linke Allgemeinplätze: Nicht auf Charaktermasken wollen wir uns stürzen, sondern Strukturen (Methoden!) aufdecken.

Strukturanalysen sind aber völlig belanglos, solange sie sich nicht am konkreten historischen Material bewähren. Berücksichtigt man jedoch bei Bush und Hitler die jeweiligen »Umstände«, müsste selbst eine deutsche Justizministerin erkennen, wie monströs ihr Vorhaben ist. So wird ihre hohle, aber ungemein reflektierte Strukturanalyse zur Demagogie. Ob bewusst oder unbewusst, spielt keine Rolle. Es reicht das Signal, dass Bush und Hitler kurz hintereinander genannt werden.

Es bleibt aber eine Strukturanalyse und damit Ideologiekritik. Däubler-Gmelin stellt den Konsens, wie über heroische Einzelpersonen und Supergangster zu reden sei, in Frage. Bush und Hitler ungestraft in einem Atemzug zu nennen, könnte aber schon dann möglich werden, wenn ein Krankenhaus in Bagdad bombardiert würde.

Wenn es also eine linke Haltung zu den Bundestagswahlen geben sollte, die über das Achselzucken hinausgeht, dann die, sich in der Ideologiekritik auf die Gleichzeitigkeit und die gegenseitige Bedingtheit von liberaldemokratischem Konsens und totalitärer Politik einzulassen. Vielleicht stehen die Chancen dazu gar nicht schlecht. Denn von einer realpolitischen Haltung hat sich die Linke bereits verabschiedet. Realpolitik wäre es gewesen, wenn die frustrierten SPD-Linken und die pazifistischen Grünen (die in ihren Parteien nicht mal mehr einen Blumentopf gewinnen können, selbst Ströbele weiß das) die PDS geentert und die Partei locker über die Fünfprozenthürde gehievt hätten. Daran hatte aber offensichtlich niemand ein Interesse.