Ex-Inlandsredakteure, die heute im Ausland leben, über die Bundestagswahl

Internationale Wahlbeobachtung

Ehemalige Inlandsredakteure der Jungle World berichten aus ihren neuen Wohnorten in Bosnien-Herzegowina, Angola, Mexiko und Belgien

Briefwahlboykott

Gestern trudelten die Briefwahlunterlagen endlich in Sarajevo ein. Wie es der Zufall wollte, lag auch eine Werbebroschüre des Ekonomski Blok im Briefkasten. Ein schmieriger Typ namens Mladen Ivankovic Lijanovic hält darin grinsend einen Zauberwürfel mit der Landkarte Bosnien-Herzegowinas in der Hand. »Ich habe die Lösung«, lautet sein Slogan für die Parlamentswahlen am 5. Oktober.

Ich leider nicht. Als Deutscher darf ich hier nicht wählen, und die Wahlen in Deutschland sind schon seit drei Tagen vorbei. Eigentlich wollte ich meine beiden Stimmen ohnehin nicht abgeben, doch parlamentarisch veranlagtere Freunde rieten mir in vorletzter Minute dazu.

Zu spät, wie mich das »Merkblatt für die Briefwahl für die Bundestagswahl am 22. September 2002« gestern aufklärte: »Wahlbriefe, die am Wahltag nach 18 Uhr bei der zuständigen Stelle eingehen, werden nicht mehr berücksichtigt.«

Den Vorschlag, mit einer Klage vorm Verfassungsgericht meinem Stimmrecht späte Geltung zu verschaffen, verwarf ich angesichts meiner Abneigung gegen alle bürokratischen Anstrengungen noch vor dem abendlichen Aperitif, aber immerhin in einem Punkt bin ich jetzt schlauer: Blindlings eine E-Mail an das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg verfassen, behaupten, man sei jemand, der man vielleicht gar nicht ist, und man sei darüber hinaus dort und dort gemeldet, zur Zeit jedoch im Ausland unterwegs, funktioniert also. Der Brief aus Berlin nach Sarajevo brauchte keine sechs Tage, 2006 werde ich versuchen, die Briefwahlunterlagen Gerhard Schröders nach Bagdad schicken zu lassen. Rechtzeitig, versteht sich - bei Rückfragen bitte ich das Bezirksamt einfach, sich an gschroeder@yahoo.de zu wenden.

Eine Gruppe bosnischer Erstwähler erklärte mir kurz vor der Bundestagswahl ein Spielchen. Nachdem wir uns darauf geeinigt hatten, dass die Vorliebe für Stoiber oder Schröder keiner weiter reichenden politischen Erklärung bedarf als der für die Zuneigung zu Katze oder Hund, wurde ich in die Spielregeln eingewiesen. So geht es für sie bei der Wahl zwischen den drei Dutzend Trägern demokratischer Willensbildung am 5. Oktober darum, das Kreuzchen bei jener Partei zu machen, die am Ende die wenigsten Stimmen erhalten wird. Wer richtig wählt, kann einen Abend lang auf Kosten der anderen trinken.

Da bliebe mir nach diesen Regeln die Wahl zwischen der Partei Bibeltreuer Christen und der Bürgerrechtsbewegung Solidarität.
markus bickel, sarajevo

Chanceler im Vermischten

Ich sitze nicht weit vom Äquator bei relativer Luftfeuchtigkeit von 75 Prozent am Schreibtisch, heute am Mittag waren es 30 Grad im Schatten. Ein Blick aus dem Fenster zeigt schmale Palmen und üppige Ranken, eine leichte Brise bewegt das Grünzeug hin und her, der Mond liegt hier am Himmel, wenn er zur Sichel wird. Vor dem Haus sitzen drei bewaffnete Wächter, denn mein Schreibtisch steht in der Dreieinhalb-bis-Vier-Millionenstadt Luanda. Das ist die Hauptstadt von Angola, einem der Länder, von denen man gerade sagt und für die man hofft, dass nun Frieden sei. So weit das Persönliche.

Das Wahlfeuilletonistische mag ich gerade nicht und stimme darin mit diesem Inlandsressort, das hier bei mir angefragt hat, überein. Es ist, glaube ich, alles schon gesagt worden. Das habe ich im Internet und in vereinzelt hierher verschleppten deutschen Zeitungen wie taz, Spiegel, Zeit, Süddeutsche und FAZ gelesen.

Da habe ich auch erfahren, dass Küppersbusch nicht wählt, aber seinen Kindern die Briefwahlunterlagen zeigt, damit sie wissen, wie's geht. Das verstehe ich zwar nicht, es macht aber nichts. Droste wählt auch nicht, was ich irgendwie doof finde, weil ich den doof finde, und mir langsam die Vorstellung auf die Nerven geht, dass sich in der Partei der Nichtwähler immer mehr außerordentlich unangenehme Menschen versammeln.

Glücklich bin ich aber dennoch, weil solche Nervenstrapazen hier so selten sind. Man denkt fast nie an Deutschland - es sei denn, es ist etwas ganz Persönliches. Das tut gut.

In der einzigen Tageszeitung, dem regierungstreuen Jornal de Angola, stand am Dienstag die Meldung: »O Partido Social Democrata (SPD) do chanceler Gerhard Schroeder e os seus aliados, os Verdes ...«. Unter Diverses aus dem Ausland. Vorher kommt erstmal Angola, dann eine Kulturbeilage, dann der Sport, und bei den Auslandsmeldungen sind die US-Politik zum Irak, die Situation in Israel, Arafat und die Lage an der Elfenbeinküste größer und wichtiger aufgezogen als der deutsche chanceler, was ich irgendwie nett und politisch korrekt eingeordnet finde.
katja leyrer, luanda

Stadtautobahnerweiterung

Nein, nein, das ist kein schlechter Witz: Am Tag der großen Abstimmung gibt es keinen Alk. Nirgends, in keiner Kneipe, in keiner der unzähligen kleinen Buden, an denen sonst selbst der schlechteste Mescal bei Tag und Nacht zu haben ist. Wer sich nicht rechtzeitig eingedeckt hat, sitzt auf dem Trockenen. Millionen von Stimmberechtigten sollen an diesem Wochenende einen klaren Kopf behalten, schließlich gilt es, eine richtungsweisende Entscheidung für die Zukunft zu treffen.

Dabei zählt gerade dieser Tag zu jenen, an denen nichts wichtiger wäre als ein kühles Bier oder eine Flasche Tequila und genügend Limonen. 9,5 Prozent für die Grünen zeigen erste Hochrechnungen auf dem Großbildschirm im »German Centre for Industry and Trade«. Dass die grüne Säule im Laufe des Tages noch um ein paar Millimeter nach unten sinkt, macht die Sache nicht besser.

Im German Centre, erbaut zwischen Armutsvierteln auf der ehemals größten Müllhalde von Mexiko-Stadt, ist die Stimmung verhalten. Auf einem kleinen Infotisch sind Broschüren ausgelegt, die Titel tragen wie »Los Ossis y los Wessis«. In einem Heft »Deutschland - Jugend 2002 zwischen Globalisierung und persönlichem Reichtum« erläutert ein Foto die neue Funktion der Bundeswehr: »den Frieden in Krisenregionen bringen«.

Hier ist jeder zunächst einmal Deutscher. Vom Wahlkrimi ist nichts zu spüren, man kommentiert nur verhalten die Zahlen aus der Heimat. Auch optisch lassen sich zwischen Krawatten und Krawatten kaum parteipolitische Präferenzen ausmachen. Selbst die kleine vierköpfige Gruppe fällt kaum auf, die sich mit von der Botschaft gestiftetem Kartoffelsalat samt Würstchen den Magen vollschlägt und gelegentlich den »grünen Krieg« moniert, die Schröder-Fischer-Regierung mit einem umfangreichen Angebot an mexikanischen Schimpfworten belegt und über eine individualistische Auslegung der Parole »Nie wieder Deutschland« sinniert. Im German Centre ist eben alles fast wie zu Hause.

Draußen geht indes der Kampf weiter. Stimmen werden gezählt, am Abend hängen an den Fenstern der Stimmlokale die Ergebnisse des jeweiligen Barrios: 56 Si - 48 No, 97 Si - 86 No usw. Doch auch die »ley seca«, das »Trockengesetz«, das den Verkauf von Alkohol an besonders bedeutsamen Tagen untersagt, kann nichts retten. Die auf den anstehenden Wahlkampf ausgerichtete Propagandaaktion der sozialdemokratischen PRD-Regierung von Mexiko-Stadt wird zur Panne. Nur rund 750 000 der über 20 Millionen Einwohner der mexikanischen Hauptstadt gehen zur heutigen großen Abstimmung: ein Plebiszit, bei dem über den Bau eines zweiten Stockwerkes der Stadtautobahn entschieden werden soll. Und von den Teilnehmern stimmt auch noch fast die Hälfte ungültig.
wolf-dieter vogel, mexiko-stadt

Straßenumfrage

Was sie denn so vom Ausgang der Wahl in Deutschland hielten, frage ich meine Nachbarn in Brüssel am Dienstag nach der Wahl. Ach ja, sagt einer, der sonst Bescheid weiß. In Deutschland sei ja gewählt worden. Wer denn gewonnen habe? Schröder, soso, ja, schon mal gehört. Dann hätten es also die Linken wieder mal nicht geschafft?

Als in Frankreich gewählt wurde, da konnte so etwas nicht passieren. Da war der Wahlausgang, auch schon vor Le Pens Erfolg im ersten Wahlgang, das Thema, wenn am Feierabend auf der Straße noch ein Schwätzchen gehalten wurde. Nicht, dass man für einen der Kandidaten besondere Sympathien gehegt hätte, aber Frankreich, das musste einen doch interessieren, was da passierte.

In deutschen Medien wurde zur selben Zeit darüber geklagt, wie unendlich langweilig die französischen Wahlen doch diesmal seien.

Das war natürlich in erster Linie die Klage darüber, wie schwer sich die innen- und sozialpolitischen Themen des Wahlkampfs in Frankreich den deutschen Leserinnen und Lesern verkaufen ließen. Man könnte ja der Meinung sein, in Deutschland sei es ebenso gewesen, und darum interessiert sich in Belgien keine Sau dafür, ob nun Stoiber oder Westerwelle Kanzler wird. Das kann es aber nicht gewesen sein. Schließlich war nach Meinung fast aller Kommentatoren Schröders und Fischers so genannter »Antikriegskurs« wahlentscheidend, klassische Außenpolitik also.

Das könnte eigentlich meinen belgischen Nachbarn auch interessieren. Da macht sich doch direkt nebenan, im Nachbarland Deutschland, einer dicke, wagt gar die offene Konfrontation mit der Führungsmacht der restlichen Welt und erhebt damit auch den Anspruch, der Boss von Europa zu sein.

Darüber kann man sich vielleicht in Deutschland aufregen, wenn man nicht gerade einer der beiden Regierungsparteien anhängt. In Belgien hält man so was, wenn man überhaupt davon erfährt, für Wahlkampfgeplänkel. andreas dietl, brüssel