Untersuchung des Massakers von 1968

Hundert Fragen, keine Antwort

Das Massaker auf dem Platz der drei Kulturen wird untersucht.

Luis Echeverría schweigt. Hundert Fragen, aber keine einzige Antwort, ein schlechtes Resümee für Ignacio Carrillo Prieto, den »Sonderstaatsanwalt für soziale und politische Bewegungen in der Vergangenheit«. Dabei zweifelt heute in Mexiko niemand mehr daran, dass der ehemalige Innenminister und spätere Staatschef Echeverría eine wichtige Rolle im blutigen Kampf gegen die Opposition der sechziger und siebziger Jahre spielte. Dies nun juristisch nachzuweisen, gehört zu Prietos Aufgaben, seit er im Januar das Amt in der neu geschaffenen Behörde übernommen hat.

Es scheint, als nimmt Prieto die Sache sehr genau. Er trifft sich mit alten Aktivisten und reist in Bundesländer, in denen politische Gefangene in geheimen Kerkern gefoltert wurden. Es gelte, die Verantwortlichen ausfindig zu machen. »Niemand soll außerhalb des Gesetzes stehen«, erklärte er und ließ folgerichtig auch Echeverría, den altgedienten Spitzenpolitiker der ehemaligen Regierungspartei Pri, zur Vernehmung laden. Schon zu Beginn seiner Amtszeit ließ Prieto wissen, er werde »so weit gehen, wie es nötig sein wird«.

Doch dass dem Juristen enge Grenzen gesteckt sind, wurde nicht erst mit Echeverrías Aussageverweigerung deutlich. 71 Jahre lang regierte der Pri in Mexiko, bis der konservativ-liberale Vicente Fox im Jahr 2000 die Amtsgeschäfte übernahm. Der Geist des korporatistischen Systems, das Unternehmer, Militärs, Gewerkschaften und soziale Organisationen miteinander verknüpfte, lebt jedoch in den staatlichen Institutionen weiter.

Vor allem bei den Streitkräften macht man dicht, was den mexikanischen Soziologieprofessor Sergio Zermeño wenig verwundert: »Wenn ein Militär gegen die eigenen Leute aussagen würde, wäre er ein toter Mann. Das ist der militärische Kodex.« Schlechte Karten also für Prieto, schließlich spielte das Militär wohl die wichtigste Rolle in jener Repressionsgeschichte, die vor genau 34 Jahren einen bedeutsamen Höhepunkt erlebte.

Der 2. Oktober 1968: Zehn Tage, bevor in Mexiko-Stadt die Olympischen Spiele begannen, demonstrierten 100 000 bis 200 000 Studenten auf dem Platz der drei Kulturen im Stadtteil Tlatelolco. Neben der staatlichen Bildungspolitik kritisierten sie die brutalen Methoden, mit denen das Militär gegen die Opposition vorgegangen war. Die Armee hatte zuvor eine Woche lang das Gelände der Unam, der Autonomen Universität von Mexiko, besetzt, um dem seit Monaten währenden Aufstand der Studierenden ein Ende zu machen. Einige Demonstranten saßen bereits im Gefängnis. »Damals Student zu sein, war ein Verbrechen«, erinnert sich der ehemalige Aktivist Salvador Martínez della Rocca, den alle Welt Pino nennt.

Dennoch hatte niemand mit dem gerechnet, was an diesem 2. Oktober geschehen sollte. Während der Kundgebung wurden plötzlich Schüsse aus dem dritten Stock des anliegenden Gebäudes »Chihuahua« abgegeben. Soldaten erwiderten das Feuer und schossen in die Menge. Von den zurückbleibenden Leichen fehlt bis heute jede Spur.

Wie viele Menschen an diesem Tag starben, ist ungeklärt. Kommt tatsächlich die 38 »der wirklichen Zahl am nächsten«, wie Staatsanwalt Prieto jüngst behauptete? Oder waren es 300? Von dieser Größenordnung hatte damals die ausländische Presse berichtet, und durch Augenzeugenberichte wurde sie bestätigt. Aus Angst vor Repressalien gab nach dem Massaker niemand eine Vermisstenanzeige auf. Dabei wurden zudem Tausende Menschen verhaftet, einige von ihnen blieben für immer verschwunden.

Aber auch die Frage, wer an diesem Tag zuerst geschossen hat, blieb über 30 Jahre lang ein Staatsgeheimnis. Für viele an der Demonstration Beteiligte bestand kein Zweifel: Eröffnet wurde das Feuer vom so genannten Batallón Olimpia, einer paramilitärischen Einheit, die direkt dem Innenminister Echeverría unterstand und an ihren weißen Handschuhen erkennbar war. So berichtete der damalige Studentenführer Florencio López Osuna, dass er im dritten Stock des Chihuahua-Gebäudes zahlreiche junge bewaffnete Männer gesehen habe. »Alle trugen einen weißen Handschuh.«

In einem sind sich folglich fast alle Aktivisten dieser Zeit einig: Das Batallón Olimpia sollte ein gewaltsames Vorgehen des Militärs gegen die Demonstrierenden provozieren und rechtfertigen. Doch warum sollte die Regierung an einem Massaker interessiert gewesen sein, zumal vor der Olympiade die gesamte Weltöffentlichkeit auf Mexiko blickte? Eine Frage, die sich auch der Ex-Aktivist und Soziologe Zermeño, der heute an der Unam über soziale Bewegungen lehrt, oft gestellt hat. Der schwachen Regierung des Präsidenten Díaz Ortaz sei die Konfrontation über den Kopf gewachsen, erklärt er, zumal das für die Olympiade vorgesehene Aztekenstadion auf dem Gelände der Unam liegt. Aber auch einen Machtkampf zwischen Militär und Regierung schließt er als Hintergrund des Massakers nicht aus. »Ich gehe davon aus«, so Zermeño, dass es »verschiedene Meinungen darüber gegeben hat, wie das Problem mit den Studenten zu lösen sei.«

Die Weltöffentlichkeit? Nein, meint der ehemalige Studentenführer Pino, Mexiko habe billige Arbeitskräfte für internationale Konzerne bereitgestellt, und jeder hätte wissen können, dass hier keine demokratischen Verhältnisse herrschen. Das habe bei der Entscheidung für die Olympiade niemanden interessiert. Seine Erklärung für den Angriff: Die Politik der Staatspartei Pri sei immer darauf ausgelegt gewesen, Arbeiter- oder soziale Bewegungen zu vereinnahmen. »Ein solcher Staat kann es sich nicht erlauben, dass sich Strukturen entwickeln, die sich nicht in die Institutionen einbinden lassen. Es scheint, als sei es damals weniger subversiv gewesen, für den Sozialismus zu kämpfen als für die Demokratie«, sagt er mit leicht zynischem Unterton.

Pino arbeitet in dem fünfköpfigen Komitee, das der Staatsanwalt Prieto zur Unterstützung herangezogen hat. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich die Akten mit Aufschriften wie »MAR« oder »FLN«. Sie stehen für den Movimiento de Acción Revolucionaria und Frente para la Liberación Nacional, zwei jener vielen Guerillagruppen, die sich aus der 68er-Bewegung entwickelt haben.

Spätestens nach einem weiteren Überfall, bei dem eine von der Regierung unterstützte Schlägertruppe der Halcones (»Falken«) im Juni 1971 zwischen 15 und 50 Demonstranten ermordete, tauchten zahlreiche Linke unter. Viele bezahlten diese Entscheidung mit dem Leben. Insbesondere gegen die Guerilla ging der mittlerweile zum Präsidenten avancierte Echeverría hart vor. Unzählige verschwanden in geheimen Kerkern, wurden gefoltert und sind nie wieder aufgetaucht. Auch hier weiß man bis heute nicht, wie viele es waren, die dem Militär- und Polizeiapparat zum Opfer fielen.

Mit diesen Fragen sollen sich Prieto und sein Unterstützungskomitee beschäftigen. Also vernimmt er Militärangehörige, Politiker sowie Zeitzeugen und wälzt die Archive, die Fox hat öffnen lassen. »Am Schluss muss dann ein Gericht entscheiden«, sagt Prieto. Über die Erfolgsaussichten macht sich Zermeño keine große Illusionen. Natürlich müsse man davon ausgehen, dass die Archive längst von den Militärs gesäubert worden seien.

Der Präsident selbst hat noch ganz andere Grenzen gesetzt. Die »Sonderstaatsanwaltschaft« ist der Generalstaatsanwaltschaft Mexikos (PGR) unterstellt, und die wiederum wird von einem amtierenden Armeegeneral geleitet. »Mindestens 13 weitere Militärangehörige« hätten leitende Positionen in der Behörde, kritisiert amnesty international (ai) den Deal, mit dem Fox bei seinem Amtsantritt die Balance zwischen der zivilen Regierung und dem oft autonom agierenden Militär arrangierte. Es gebe »keine wirksamen Mechanismen für unabhängige gerichtliche Untersuchungen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen, die Militärangehörigen oder Mitarbeitern der PGR vorgeworfen wurden«.

Dennoch hat die Einrichtung der Sonderstaatsanwaltschaft dazu geführt, dass die Verbrechen seit Monaten öffentlich diskutiert werden. Das allein ist Grund genug für Pino, sich an den Untersuchungen zu beteiligen. Die Öffnung der Archive sei unter der Pri-Regierung kaum zu erwarten gewesen, meint der Altaktivist. Die Behauptung, Fox habe ein Interesse an Aufklärung, stelle die Sache aber auf den Kopf. »Fox ist lediglich durch öffentlichen Druck gezwungen, so zu handeln.«

Tatsächlich wurde die Behörde im Januar gegründet, wenige Wochen, nachdem die Zeitschrift Proceso Fotos veröffentlicht hatte, die eindeutig beweisen, dass das Batallón Olimpia an jenem 2. Oktober gegen die Studenten vorging. Bis dahin hatte Fox, wie alle Präsidenten vor ihm, die Existenz der Spezialeinheit geleugnet. Sein international ausgerichteter wirtschaftsliberaler Kurs zwingt ihn jedoch, vermeintliche Erfolge im Kampf für Menschenrechte aufzuzeigen.

»Diese Untersuchungen«, resümiert Zermeño, »sind sinnvoll, aber sie stehen im Interesse des neuen Regimes.« Dieses »neue Regime« jedoch setzt alte Traditionen in der Gegenwart ungebrochen fort. Führer indigener Organisationen werden verhaftet, gefoltert oder ermordet, Menschenrechtler mit dem Tode bedroht. Für Aline Castellanos, die Rechtsanwältin der Liga Mexicana de Derechos Humanos aus Oaxaca, stellt sich die Frage: »Sollen wir vielleicht wieder 30 Jahre warten, bis auch diese Verbrechen aufgeklärt werden?«