Die EU-Kommission weicht die Stabilitätskriterien auf

Der Euro schmilzt

Seit geraumer Zeit wirkt die gewohnheitsmäßige Rhetorik von Aufschwung und Stabilität hölzern. Die Pleiten und Blamagen häufen sich. Sollte das UMTS-Projekt eine neue Ära der Kommunikationstechnologie und der Realakkumulation eröffnen, so hat es sich binnen Jahresfrist als der größte ökonomische und industriepolitische Flop der Nachkriegsgeschichte entpuppt. Mit der Liquidierung des Neuen Marktes wird nun eine ganze vermeintliche Gründerzeit schon früh beendet. Gleichzeitig beginnt das Währungsexperiment des Euro außer Kontrolle zu geraten. Der feierlich beschworene Stabilitätspakt, der der neuen Weltwährung als Konkurrenz zum Dollar Gewicht verleihen sollte, ist von der EU-Kommission gelöst worden, als wäre er ein Aprilscherz für die Finanzmärkte gewesen.

Das starke Stück hat Gründe. Ursprünglich sollte der Euro auf einem stabilisierenden Regelwerk mit drei Vorschriften für die Staatsfinanzen der beteiligten Länder beruhen: Erstens muss die jährliche Neuverschuldung unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gehalten werden; zweitens darf die Gesamtverschuldung nach einer Übergangszeit 60 Prozent des BIP nicht überschreiten; drittens soll »mittelfristig« die jährliche Neuverschuldung beendet, also ein ausgeglichener Staatshaushalt vorgelegt werden.

Dieses Ziel wurde für die großen Volkswirtschaften Frankreich, Deutschland und Italien für 2002 anvisiert, musste aber schon bald auf 2004 verschoben werden. Der Glaube, dass das Ziel zwei Jahre später zu erreichen sei, war jedoch ebenso illusorisch wie die übrigen Vorschriften. Die Gesamtverschuldung liegt in Frankreich mit steigender Tendenz bei knapp unter 60 Prozent des BIP, in Deutschland bereits darüber und in Italien mit mehr als 100 Prozent sowieso jenseits von Gut und Böse.

Die Neuverschuldung im Jahr 2002 geht in allen drei Ländern auf die ominösen drei Prozent zu, für Deutschland werden bereits 3,5 Prozent vorhergesagt. Statt die rote Karte zu zeigen, tat die EU-Kommission nichts und verschob die Frist für den Ausgleich der Haushalte auf 2006. Im Klartext: auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.

Dass die Berliner Republik ein Hauptakteur bei der finanzpolitischen Destabilisierung ist, macht die nostalgisch-populistische Beschwörung der »starken« Deutschmark objektiv lächerlich. Es ist auch gar kein Wunder, dass gerade die Kernländer das Desaster der künstlichen Währung herbeiführen. Innerhalb des Metropolen-Kapitalismus ist es die Schwerkraft der großen Volkswirtschaften, von der die allgemeine Krisendynamik bestimmt wird.

In dieser Hinsicht hat eine grundsätzliche Veränderung stattgefunden. Genau wie das UMTS-Projekt und der Neue Markt war der Euro ein Geschöpf des Finanzblasen-Kapitalismus der neunziger Jahre. Und genau wie in den USA beruhte die Illusion einer Stabilisierung der Staatsfinanzen darauf, dass die sprudelnden Steuereinnahmen der Blasen-Konjunktur in den neunziger Jahren einfach hochgerechnet wurden. Mit dem Ende der Blasen-Ökonomie entfallen jedoch diese irregulären Einnahmen, und damit fallen die Stabilitätsgerüste zusammen.

In den USA wie in Euroland gibt es jetzt finanzpolitisch nur noch die Alternative, entweder die Konjunktur durch Steuererhöhungen und drastische Ausgabenkürzungen endgültig abzuwürgen oder die Währung durch eine ausufernde Staatsverschuldung zu inflationieren. Im Streit darüber könnte der Euro ein ähnlich unseliges Ende nehmen als das UMTS-Projekt und der Neue Markt.