Die Außenpolitik

Bewaffnete Wende

Gefühltes Rot-Grün X: Der einstige Antiimperialist Joschka Fischer war genau der richtige Mann, um deutsche Kriegseinsätze moralisch zu rechtfertigen.

Racak, Racak, immer wieder Racak. »Racak«, erklärte Joschka Fischer zum ersten Mal im Frühjahr 1999, »Racak war für mich der Wendepunkt.« An der Legende von der Alternativlosigkeit des Angriffskrieges auf Jugoslawien strickte der Außenminister seither immer weiter, machte es für die Frage von Krieg oder Frieden doch irgendwann keinen Unterschied mehr, ob die 45 am 15. Januar 1999 tot in Racak aufgefundenen Kosovo-Albaner bei ihrer Erschießung wirklich unbewaffnet waren oder ob Mitglieder der Kosovo-Befreiungsarmee UCK die Leichen später präparierten.

Fischer hält trotz aller bekannt gewordenen Zweifel auch am Ende der Legislaturperiode an der rot-grünen Propagandalüge zur Begründung des ersten Kampfeinsatzes der Bundeswehr fest. Bis zu jenen Tagen im Januar sei ein Kompromiss mit Slobodan Milosevic möglich gewesen, erst nach dem vermeintlichen Massaker von Racak habe es keinen friedlichen Ausweg mehr gegeben. Dass er bereits drei Monate zuvor der Bereitstellung von 500 Bundeswehrsoldaten und 14 Tornados zugestimmt hatte, spielt da keine Rolle. Nicht nur für ihn übrigens: Lediglich 30 Parlamentarier der Grünen und der SPD votierten am 16. Oktober 1998 im Bundestag gegen den Beschluss, gegebenenfalls noch vor Weihnachten mit der Bombardierung Jugoslawiens zu beginnen.

Die frühe Entscheidung für den Kriegseintritt räumt gleich mit zwei Legenden auf. Weder war der bewaffnete Einsatz innerhalb der Regierung so umstritten, wie es der Bielefelder Kriegsparteitag der Grünen am Himmelfahrtstag 1999 suggerieren sollte, noch bedurfte es des Wechsels in der Exekutive, um die deutschen Tornados in Richtung Adria zu verabschieden. Wenn denn schon ein Wendepunkt in der deutschen Außenpolitik markiert werden muss, so wäre wohl am ehesten jener triste Tag im Oktober zu nennen, an dem die SPD und die Grünen zwar die Wahlen schon gewonnen hatten, Helmut Kohl und Klaus Kinkel in Bonn aber immer noch das Sagen hatten.

So konnte es auch nicht wirklich überraschen, dass drei Jahre später erneut Einigkeit im außenpolitischen Establishment der BRD herrschte, als Gerhard Schröder jene »Etappe deutscher Nachkriegspolitik« für »unwiederbringlich« beendet erklärte, in der lediglich »sekundäre Hilfsleistungen« angeboten wurden. »Das schließt auch die Beteiligung an militärischen Operationen zur Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten, zur Herstellung von Stabilität und Sicherheit ausdrücklich ein«, sagte der Kanzler einen Monat nach den Anschlägen vom 11. September im Bundestag.

Über den Bedeutungsverlust der Pazifisten während der rot-grünen Amtszeit und die Tatsache, dass ausgerechnet ein ehemaliger Sponti sowie zwei frühere Vorsitzende der Jusos in den ersten Krieg nach 1945 führten, ist seit dem Frühjahr 1999 viel geschrieben worden. Hartnäckig gehalten hat sich auch die von Fischer und Oskar Lafontaine verbreitete Version, die rot-grüne Regierung habe den von den USA geforderten Luftangriffen auf Jugoslawien erst nach den Leichenfunden in Racak, also Mitte Januar 1999, zugestimmt.

Ähnliche Zustimmung erhielt erstaunlicherweise vor allem in linken Kreisen die Behauptung, eine Bundesregierung unter Kohl hätte einen kriegerischen Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan verweigert. Als Beleg hierfür wird in aller Regel ein Zitat des damaligen Kanzlers aus dem Jahre 1995 angeführt, als er die Entsendung deutscher Truppen in jene Länder ablehnte, in denen einst die Wehrmacht mordete. Davon, dass deutsche Soldaten bereits seit dem Januar 1996 in Bosnien einen fragilen Frieden sichern halfen, blieb das Argument stets unberührt.

Und auch jene, die der linkspopulistischen Begründung Lafontaines Glauben schenken, für seinen Rücktritt interessierte es kaum, dass der damalige SPD-Vorsitzende noch vor dem rot-grünen Amtsantritt Luftangriffen der Bundeswehr auf jugoslawische Stellungen parlamentarisch zugestimmt hatte. Nicht anders als Kohl übrigens.

Aus diesem Grund geht auch der Vorwurf, erst Rot-Grün habe mit dem Kosovo-Krieg die Militarisierung der deutschen Außenpolitik zu Ende geführt, ins Leere. Treffender wäre es, das Verhalten der rot-grünen Spitzenpolitiker so zu interpretieren, dass einige Ausläufer der 68er-Revolte hier politisch-administrativ ihre schon länger gehegte Überzeugung umsetzten, notfalls eben auch militärisch zu intervenieren. Dieser Prozess war ein nachholender. Große Teile der Bevölkerung konnten fünf Jahre nach der Wiedervereinigung ohnehin nicht mehr verstehen, weshalb Deutschland bei internationalen Militäreinsätzen außen vor bleiben sollte.

Den außenpolitischen Konsens, der bei der Abstimmung im Oktober 1998 zustande kam, kann man daher getrost als Abschluss und nicht als Ausgangspunkt einer Entwicklung betrachten, die, wie von der Union bis zu den Grünen gefordert, Deutschland eine wichtigere Rolle in der Welt bescherte. Im Rückblick gerät der Parlamentsbeschluss zur historischen Momentaufnahme, in der die von Fischer seit dem Massaker von Srebrenica 1995 verfolgten Bestrebungen einer »realistischen Außenpolitik« endgültig mit denen der alten Regierung zusammenfielen.

Im Grunde brauchten die Spitzen von Rot-Grün Kohls Argumentation nur auf den Kopf zu stellen, um sich des moralischen Rückhalts jener gesellschaftlichen Formation sicher zu sein, die 1968 angetreten war, alles zu tun, um ein neues Auschwitz zu verhindern. Für die Formulierung dieses »moralischen Overkills« (Frank Schirrmacher) schien allerdings wirklich niemand besser geeignet als der einstige Antiimperialist Fischer. »Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus«, brachte er auf dem Bielefelder Parteitag den kategorischen Imperativ der kriegsführenden Berliner Republik antifaschistisch gewendet auf den Punkt.

Ein Wendepunkt war das freilich nicht mehr. Schon im Sommer 1995 wollte Fischer im Kampf gegen Milosevics »neuen und zugleich altbekannten Balkanfaschismus« das »Spanien unserer Generation« ausgemacht haben. Seine nach dem Massaker von Srebrenica an die Grünen gerichtete rhetorische Frage musste er seit dem Regierungsantritt jedenfalls nicht mehr modifizieren. »Läuft die deutsche Linke jetzt nicht massiv Gefahr, ihre moralische Seele zu verlieren, wenn sie sich, egal mit welchen argumentativen Ausflüchten, vor diesem neuen Faschismus und seiner Politik der Gewalt wegduckt?« schrieb er im später als Bosnien-Papier bezeichneten Brief an die Partei.