Ein französischer Prozess zum algerischen Bürgerkrieg

Zwei Wahrheiten

Pünktlich zum 40. Jahrestag seiner Unabhängigkeit von Frankreich beschäftigte Algerien die Öffentlichkeit der ehemaligen Kolonialmacht. In der vorigen Woche begann vor der 17. Strafkammer des Pariser Gerichtshofs ein brisanter Prozess. Der algerische General und ehemalige Verteidigungsminister Khaled Nezzar hatte wegen Verleumdung gegen den früheren Offizier Habib Souaïdia geklagt. Dieser lebt seit dem April 2000 in Frankreich, nachdem er in Algerien vier Jahre in Militärhaft verbrachte - weil er Dissident gewesen sei, behauptet er selbst, andere Quellen geben Diebstahlsvorwürfe als Grund an.

Die Bedeutung des Verfahrens geht weit über den konkreten Streitfall hinaus. Letztlich geht es um die Bewertung der blutigen Ereignisse in Algerien während der letzten zehn Jahre. Unter dem Namen Souaïdias wurde im Februar 2001 im französischen Verlag La Découverte »La sale guerre« (Der schmutzige Krieg) veröffentlicht. Das Buch, dessen Ghostwriter der französische Verleger François Gèze war, beschuldigt die algerische Armee, angeblich von radikalen Islamisten begangene Massaker selbst verübt zu haben. Die Darstellung weist jedoch eine Reihe von Unstimmigkeiten und fragwürdigen Passagen auf (Jungle World, 28/01).

In der Debatte über den algerischen Bürgerkrieg stehen sich zwei unvereinbare Positionen gegenüber. Beide Seiten führten das Verfahren als einen politisch-ideologischen Prozess und boten entsprechende Zeugen auf. Für Nezzar sprachen eine Reihe von Mitgliedern der algerischen politischen Klasse, die unmittelbar in die Ereignisse der frühen neunziger Jahre involviert waren, aber auch Opfer des islamistischen Terrorismus. Selbstlos habe die Armee eingegriffen, um »die Republik zu verteidigen«, so Nezzars Darstellung.

Souaïdia, der dem Militär allein das Blutvergießen zuschreibt, wurde von Vertretern jener Fraktionen der politischen Klasse Frankreichs und Algeriens unterstützt, die in den neunziger Jahren für die Integration der Islamisten plädierten, aber auch von Opfern der militärischen Repression. Glaubwürdigkeit sollte Souaïdias Aussage dadurch gewinnen, dass er weitere »Dissidenten« aus den Reihen der algerischen Armee aufbot. Der frühere Mitarbeiter des militärischen Geheimdiensts Mohammed Sahraoui erklärte, dass die Islamischen Bewaffneten Gruppen (Gia) »von den Diensten der Armee geschaffen« worden seien, um den Islamismus zu diskreditieren. Allerdings war Sahraoui zum Zeitpunkt der Gründung der Gia Anfang 1994 gar nicht in Algerien, sondern residierte als Diplomat in der BRD.

Wahrscheinlich wird das Pariser Gericht es vorziehen, angesichts zweier jeweils in sich geschlossener zeitgeschichtlicher »Wahrheiten« im Namen der notwendigen Freiheit der Debatte die Klage Nezzars abzuweisen. Die Staatsanwältin plädierte in diesem Sinne. Zu befürchten ist nur, dass eines der politischen Lager eine solche Entscheidung - sie soll am 27. September fallen - als Bestätigung seiner Thesen ausgeben wird.

Der islamistische Terror war jedoch, trotz der möglichen Verwicklung des Staates in einzelne Gewalttaten, keine Verschwörung des Militärs. Er wird in Algerien fortgeführt, auch wenn die bewaffneten Islamisten keine Chance mehr auf einen Sieg gegen die Regierung haben. Der politische Flügel ist in den Augen der Mehrheit der Algerier diskreditiert. Aber die bewaffneten Gruppen töten weiter, auch wenn heute die kriminelle Bereicherung und die ideologisch motivierte Terrorisierung der Bevölkerung ihre Ziele sind. Am Freitag vergangener Woche, dem Tag der Unabhängigkeitsfeiern, ereignete sich in Larbaa, 20 Kilometer südlich von Algier, der mörderischste Bombenanschlag seit Jahresbeginn. Mindestens 35 Tote und 79 Verletzte waren zu beklagen.