Präsident Duhalde in der Klemme

Wer jagt wen?

Nach Repressalien der Polizei fordern Demonstranten seinen Rücktritt. Der argentinische Präsident Duhalde setzt derweil vorgezogene Neuwahlen an.
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Es regnete in Strömen, in Argentinien ein anerkannter Grund, einer Verabredung unentschuldigt fernzubleiben. Trotzdem kamen am Mittwoch vergangener Woche in Buenos Aires rund 30 000 Menschen zu drei Demonstrationen, die sich an der Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast trafen, um des Todes zweier Piqueteros am 26. Juni zu gedenken. Unter Transparenten mit Aufschriften wie »Duhalde raus!« kam eine breite Koalition zusammen, von arbeitslosen Piqueteros über Gewerkschafter bis hin zu allen Segmenten der argentinischen Linken. »Duhalde, der Präsident, hat keine Legitimität, weil er von der argentinischen Bevölkerung nicht gewählt wurde«, sagte ein Demonstrant der Nachrichtenagentur Reuters. »Das wenige an Legalität, das er repräsentierte, verlor er mit den Morden vom 26. Juni.« Die Manifestation war ein Zeichen weit verbreiteter Ablehnung der Politik der »harten Hand«, zugleich aber auch ein Ausdruck der Angst davor, dass die Regierung zu brutaler Repression greift.

Diese Befürchtung ist berechtigt. In den vergangenen Monaten wurden Teilnehmer der Nachbarschaftsversammlungen, Arbeiter in den mittlerweile 53 besetzten Fabriken und über 70 produzierenden Kollektiven, organisierte Studenten, Piqueteros, sogar Mitglieder der Organisationen, die sich gegen die Sperrung der Sparguthaben wehren, versprügelt, eingeschüchtert oder mit dem Tode bedroht. Solche Repressalien betrafen das gesamte Spektrum, das nicht bereit ist, sich widerstandslos der Verarmungspolitik zu unterwerfen.

Doch der 26. Juni markiert einen deutlichen Einschnitt. So verwundert es nicht, dass seither zahllose Menschen zusammen mit Rechtsanwälten, Journalisten und Menschenrechtsorganisationen daran arbeiteten, den genauen Hergang der Ereignisse dieses Tages zu rekonstruieren.

Die Regierung geriet dabei immer mehr in die Defensive. Hatte sie zunächst verbreitet, Streit unter mit Gewehren und Pistolen bewaffneten Piqueteros habe ein hartes Einschreiten zur Folge gehabt, sah sich Präsident Eduardo Duhalde nach der Veröffentlichung zahlreicher Fotos und Videoaufnahmen bereits am folgenden Wochenende gezwungen zu erklären, dass die Ereignisse in Avellanada, einem Stadtteil von Buenos Aires, eher einer »Treibjagd« ähnelten.

Und jeden Tag kamen neue Details ans Licht. Während der »Treibjagd« auf der Straße stürmte die Polizei die Räume der Kommunistischen Partei von Avellaneda. Am Dienstag vergangener Woche sagte Mariano Benítez vor Kameras aus, die Polizei habe zunächst Tränengas in die Räume geschossen, in denen sich nach unterschiedlichen Angaben zwischen 50 und 150 Menschen befanden; kurz darauf sei sie in das Gebäude eingedrungen und habe wahllos mit Gummigeschossen und scharfer Munition gefeuert. Den meisten Anwesenden gelang die Flucht über die Dächer der Nachbarhäuser, Mariano Benítez war allerdings unter den Zurückgebliebenen. Er beschrieb, wie ein Polizist sich über ihn stellte und auf ihn feuerte. Später, im Krankenhaus, wurden an seinem Kopf neun durch Gummigeschosse verursachte Verletzungen festgestellt.

Ein anderer Ort, an dem die Geister der Diktatur wach wurden, war die Wache 1 von Avellaneda. Die 160 Menschen, die die Polizei am 26. Juni verhaftete, wurden dorthin gebracht. Kurz vor 15 Uhr betraten der Abgeordnete Alfredo Villalba und der Anwalt Luis Palmeiro die Wache. Nach ihren Aussagen standen die Gefangenen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, mit dem Gesicht zur Wand, unter ihnen sieben schwangere Frauen, 43 Minderjährige und ein Behinderter; auf dem Fußboden Pfützen von Blut, die Wände ebenfalls blutverschmiert. Unter den Gefangenen befanden sich elf Verletzte, darunter einer mit einer stark blutenden Schusswunde in der Schulter. Nach und nach gelang es Villalba und Palmeiro, sämtliche Gefangenen frei zu bekommen.

Im Krankenhaus Fiorito, in das an diesem Tag die meisten Verletzten gebracht wurden, nahm die Polizei Verhaftungen vor. Nachforschungen von Journalisten brachten nunmehr ein weiteres beunruhigendes Detail ans Licht. In den meisten Krankenhäusern sind die Vorräte an Erste-Hilfe-Material wegen der strikten Sparmaßnahmen schon vor längerer Zeit zur Neige gegangen. Es gab nur ein einziges Krankenhaus in der gesamten Provinz, in dem die Vorräte aufgestockt wurden: das Krankenhaus Fiorito, und zwar eine Woche vor der blutigen Repression.

Zudem berichteten mehrere Tageszeitungen am 2. Juli über die Karriere des Kommisars Mario Mijín, des direkten Vorgesetzten von Alfredo Luis Franchiotti, dem Polizisten, der den Einsatz am 26. Juni leitete und nun wegen des Verdachts des Mordes an dem Piquetero Dario Santillan inhaftiert ist. Nach Aussagen der Asociación de Ex Detenidos Desaparecidos (Vereinigung ehemaliger Verhafteter und Verschwundener) war Mijín während der Zeit der Militärdiktatur Wächter im Folterzentrum Arana.

»Das Gesicht von Kommissar Franchiotti taugt dazu, unsere Gegenwart zu erklären. Und auch das seines Chefs, des Kommissars Marío Mijín, Folterer in der Zeit der Diktatur«, schrieb der argentinische Schriftsteller Osvaldo Bayer in der linken Tageszeitung Pagina 12 am vergangenen Samstag. Und er erinnerte daran, dass die 1987 erlassenen Gesetze zum »pflichtgemäßen Gehorsam« und zum »Schlusspunkt« des ehemaligen Präsidenten Raúl Alfonsín und seiner Radikalen Partei es ermöglichten, dass eine solche »menschliche Bestie« unter den Präsidenten Carlos Menem, Fernando De la Rúa und Duhalde befördert werden konnte.

Weiteres, am Mittwoch vergangener Woche veröffentlichtes Videomaterial zeigt einen Mann in Zivil, der auf Demonstranten schießt. Anschließend gibt er der Polizei Anweisungen, dann feuert er erneut. Schließlich sammelt er die Hülsen der verschossenen Munition vom Boden auf. Die von der Regierung als Grund für die Repression genannten, mit Pistolen und Gewehren bewaffneten Piqueteros dürften somit in Wirklichkeit Polizisten in Zivil gewesen sein. Weitere Indizien: Weder wurden Polizisten durch Schüsse verletzt, noch wurden bei einem einzigen der Verhafteten Waffen oder Munition gefunden.

Nicht zuletzt die wachsende Kritik an seiner autoritären Krisenverwaltung dürfte ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass Duhalde bereits am Dienstag der vergangenen Woche einen überraschenden Schritt tat. Er kündigte in einer Fernsehansprache vorgezogene Neuwahlen an; statt wie vorgesehen im September des kommenden Jahres soll nun bereits Ende März gewählt werden. »Wir brauchen eine Regierung, die durch die Abstimmung der Bevölkerung gestärkt wird und in der Lage ist, wichtige Reformen mit dem Ziel einer anhaltenden wirtschaftlichen Entwicklung einzuleiten«, erklärte Duhalde, der seit Anfang des Jahres das Präsidentenamt innehat.

Seither hat der argentinische Peso rund drei Viertel seines Wertes verloren, und Duhaldes Regierung verhandelt - bislang ergebnislos - mit dem Internationalen Währungsfonds über einen neuen Kredit in Höhe von 18 Milliarden Dollar. Die Auslandsschulden Argentiniens belaufen sich auf etwa 160 Milliarden Dollar. Insbesondere bei Grundnahrungsmitteln hat eine Preisexplosion stattgefunden. Weizenmehl wurde nach Angaben von Komsumentengruppen seit Januar um 138 Prozent, Speiseöl um 159 Prozent teurer. In der ehemaligen »Schweiz Lateinamerikas« grassiert wieder der Hunger.