Angela Marquardt, PDS-Abgeordnete im Bundestag, zu Stasi-Vorwürfen

»Leicht ist das nicht zu begreifen«

Vor drei Wochen sorgte ein Bericht von Spiegel-Online über Angela Marquardt für Furore. Journalisten waren in der Gauck-Behörde auf Akten gestoßen, nach denen die PDS-Abgeordnete in ihrer Jugend eine inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit der DDR gewesen sei. Die Verpflichtungserklärung stammt aus dem Jahr 1987, als Angela Marquardt 15 Jahre alt war. Sie selbst sagt, sie habe niemals wissentlich mit der Stasi zusammengearbeitet. Der Immunitätsausschuss des Bundestages hat eine Überprüfung eingeleitet.

Nach dem Bekanntwerden der Stasi-Akten haben Sie sich, von einer schriftlichen Erklärung abgesehen, zunächst kaum zu Wort gemeldet. Warum nicht?

Ich hatte und habe selbst mehr Fragen als Antworten. Ich musste erst einmal recherchieren, mit meiner Mutter und alten Freunden reden, um herauszubekommen, was da los war. Es war eine Reise in meine Kindheit, das war für mich nicht leicht. So vieles aus meiner eigenen Vergangenheit steht plötzlich in einem anderen Licht da. Ich bin auf der Suche.

Das Ministerium für Staatssicherheit hat Sie offenbar als IM Katrin Brandt geführt. Wie kam es dazu?

Aus der Akte geht hervor, dass ich im April 1987, also mit 15, eine Verpflichtungserklärung für das MfS unterschrieben habe. Von meiner Mutter weiß ich inzwischen, dass mir dieser Text diktiert wurde. Ich kann mich aber nicht daran erinnern.

Das klingt wie die typische Antwort eines Politikers, wenn er in die Bredouille gerät.

Ich habe versucht, mir die Situation ins Gedächtnis zu rufen, aber vergebens. Ich bestreite ja nicht, dass es so war, ich sage nur, ich kann mich nicht daran erinnern.

Weshalb hat Ihre Mutter Ihnen diesen Text diktiert?

Nachdem ich einen Freund meiner Mutter im Bus gegrüßt hatte, wurde mir bei uns zu Hause in Greifswald am Küchentisch erklärt, dass das MfS eine wichtige Arbeit macht, und dass ich über die Besuche der Freunde bei uns zu Hause mit niemandem sprechen soll. In diesem Zusammenhang sollte ich offenbar auch diese Erklärung, praktisch als Schweigeverpflichtung, schreiben. Die Bekannten meiner Eltern waren für mich bis dahin nicht Stasi-Mitarbeiter gewesen, sondern einfach Freunde, die auch zu Familienfesten kamen.

Was hat die Stasi für Sie damals bedeutet?

Ich habe mir als Kind oder Jugendliche über das MfS überhaupt keine Gedanken gemacht. Es war für mich etwas ganz Normales, Alltägliches. Zwei Väter von Mitschülern haben beim MfS gearbeitet. Das MfS war das MfS, wo man eben auch arbeitet.

Sie selbst, sagen Sie, hätten nie wissentlich mit der Stasi zusammengearbeitet.

Es gibt zwei Berichte, die nach meinem 18. Geburtstag entstanden sind, und reichlich Papier aus der Zeit davor. Aber es gibt keine Berichte, die ich verfasst habe. Es sind alles Berichte über mich. Und natürlich wird dort verwertet, was ich meinen Eltern oder deren Freunden so erzählt habe. Manche dieser ganz alltäglichen Gespräche werden in den Akten als so genannte Treffberichte vermerkt.

Können Sie ausschließen, dabei Leuten geschadet zu haben?

Nachdem ich mir die Akten jetzt x-mal durchgelesen habe, denke ich, dass ich das ausschließen kann. Es kommen in den Akten kaum andere Namen vor. Nur einmal eine Aufzählung von Mitschülern und welche Berufe deren Eltern haben. Und meine Mutter hatte mir einmal gesagt, ich solle eine x-beliebige Person einschätzen. Es sollte offensichtlich ein Test sein, ob ich das kann. Das habe ich dann wohl auch gemacht. Das stammt aber noch aus der Zeit vor der Verpflichtungserklärung.

Spiegel-Online hat einen Bericht veröffentlicht, in dem Sie über den Plan eines Mannes sprechen, über Ungarn in den Westen zu fliehen.

Dem Bericht zufolge hatte er das vor, setzte es aber nicht um. Ich kann mich daran beim besten Willen nicht erinnern. Ich habe versucht, den Fall zu rekonstruieren, ehemalige Mitschüler angerufen, mit meiner Mutter gesprochen. Aber keiner weiß, worum es da geht. Ich war damals immerhin schon 18. Daran müsste ich mich eigentlich erinnern, noch dazu, wo es in dem Bericht relativ detailliert dargestellt wird. Ich weiß nicht, wer das sein soll. In der Akte kommt zum Ausdruck, dass mir diese Geschichte erzählt wurde.

Also stimmt nicht, was in den Akten steht?

So will ich das nicht sagen. Aber ich nehme heute wahr, dass die Akten eine andere Realität widerspiegeln, als die meine war.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Da steht, ich sei zu einem Treffen bestellt worden und sollte als Tramperin an der F 96 in ein Auto steigen. Ich saß in dem Auto, ja, weil mein Freund Jörg mich ab und zu vom Judo-Training oder aus dem Internat abgeholt hat. Die Judo-Halle lag an der F 96. Jörg war immer im Dienst des MfS. Was ich ihm erzählte, hat er, wie ich jetzt weiß, manchmal aufgeschrieben und daraus Berichte gefertigt. Für mich war er ein Freund, aber laut Akten war er mein Führungsoffizier.

Was steht sonst noch in den Akten aus der Zeit vor Ihrem 18. Geburtstag?

Schon vor dieser Verpflichtungserklärung wurde ich eingeschätzt. Ob ich zuverlässig bin, ob ich schweigen kann und solche Dinge. Aus den knapp zwei Jahren nach der Verpflichtungserklärung gibt es offenbar wenig Aktenmaterial. Dann folgen umfangreiche Auseinandersetzungen über mich und meine Zukunft. Damals waren meine Eltern bereits nach Frankfurt/Oder umgezogen, und ich kam in Greifswald ins Internat.

Wie ist das, wenn Sie heute begreifen müssen, dass Ihre eigenen Eltern Sie konsequent der Stasi zugeleitet haben?

So haben sie es sicher nicht gesehen. Aber leicht ist das alles nicht zu begreifen. Vor allem, wenn man das plötzlich auch noch öffentlich aufarbeiten soll.

Die Stasi hat sich offenbar auch über Ihre Zukunft Gedanken gemacht.

Ich wollte zur NVA gehen und Sportoffizier werden, weil ich beim Judo weiterkommen wollte. Ich war DDR-Meisterin in meiner Gewichtsklasse. Man hat mich dann aber nicht gelassen, weil die NVA in dieser Laufbahn keine Frauen genommen hat. Man sagte mir dann, ich könne doch Funkoffizier werden oder Politoffizier. Das wollte ich aber nicht. Für mich brach eine Welt zusammen. Ich war ziemlich orientierungslos. Das MfS hat dann scheinbar, so steht es zumindest in den Akten, auch mit meinen Eltern darüber geredet, mich in Richtung Theologie zu orientieren. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt durch eine Internatsfreundin bereits kirchliche Kontakte.

Warum ausgerechnet Theologie?

Nachdem ich bei der NVA nicht Sportoffizier werden durfte, hatte ich Probleme in der Schule und im Internat. Man warf mir vor, den Berufswunsch, also die NVA-Laufbahn, vorgetäuscht zu haben, um das Abitur machen zu können. Ich wurde dann von einigen Lehrern regelrecht gemobbt. Eines Tages musste ich im Mathe-Unterricht an die Tafel und konnte nichts. Schließlich sagte ich meinem Lehrer ins Gesicht: »Außerdem studiere ich sowieso Theologie.« Das war für diesen oberkorrekten Lehrer wie ein Faustschlag. Für mich war das ein Triumph. Von diesem Zeitpunkt an fand ich das Theologiestudium unglaublich cool, eine schöne Provokation. Ich hatte keine Ahnung, dass die Stasi mich offenbar als IM an der Fakultät installieren wollte. Zum Glück fiel dann die Mauer, und ich ging ganz neue Wege.

In der PDS gehörten Sie immer zu den schärfsten Kritikerinnen einer ungenügenden Stasi-Aufarbeitung. Werden Sie sich künftig in dieser Sache nicht mehr so weit aus dem Fenster hängen?

Meine Geschichte hat mich in der Kritik an der Stasi eher bestärkt. Aber vielleicht habe ich manchmal zu schnell über Leute geurteilt. Ich muss zugeben, dass Akten und die eigene Wahrnehmung zwei Paar Schuhe sein können. Und ich verstehe jetzt auch, wie schwer es sein kann, solche persönlichen Dinge im Rampenlicht auszutragen.