Leben in Srebrenica

Es gibt kein Zurück

Auch zehn Jahre nach dem Beginn des Krieges in Bosnien wollen nur wenige der früheren muslimischen Einwohner wieder in Srebrenica leben.

Auch die Polizisten mit den kyrillischen Buchstaben auf den blauen Ärmeln schauen zu. Im Rücken das frisch renovierte Hauptquartier, stehen sie vor dem fünf Meter hohen Zaun, der den asphaltierten Fußballplatz von der leicht ansteigenden Straße trennt. Rund 250 Zuschauer haben sich an diesem lauen Abend Ende Juni auf den Stufen neben dem Platz niedergelassen, um einer der beiden lokalen Mannschaften die Daumen zu drücken. Hinter dem Tor, wo die neun oder zehn Polizisten stehen, verkauft ein Mädchen in rot-weiß gestreiftem T-Shirt einem Mann im Jogginganzug eine Flasche Bier. Drei Kästen hat sie auf einem notdürftig umgebauten Kinderwagen übereinander gestapelt.

Vor mehr als neun Jahren, am 12. April 1993, explodierte hier auf dem Sportplatz eine Granate. Beim bis dahin schwersten Artillerieangriff bosnisch-serbischer Einheiten auf die unweit der Drina, des Grenzflusses zwischen Bosnien und Serbien, gelegenen Ortschaft kamen 14 Schuljungen ums Leben, die gerade Fußball spielten. Die Explosion hatte eine solche Wucht, dass ganze Körperteile in dem heute verrosteten Zaun hängen blieben. Vier Tage nach dem Beschuss erklärten die Vereinten Nationen die von den Truppen Ratko Mladics eingeschlossene Enklave zur Uno-Schutzzone, rund 120 kanadische Soldaten trafen am Tag nach der Entscheidung des Sicherheitsrates in Srebrenica ein.

Ein knappes Jahrzehnt später ist die Schule hinter dem Sportplatz wieder renoviert, doch neben dem beigen Gebäude ragen immer noch Häuser mit leeren Fensterhöhlen und Einschusslöchern in den Wänden hervor. Eingekesselt zwischen den steil ansteigenden Hängen auf beiden Seiten des an dieser Stelle vielleicht 400 Meter engen Tals, kann man heute nur ahnen, welchem Horror die Bewohner während der bis Juli 1995 dauernden Belagerung ausgesetzt waren. Nicht mehr als eine Ahnung davon, wie das Leben vor dem Krieg in der seinerzeit jugoslawischen Kleinstadt im Osten Bosniens ausgesehen haben mag, gibt auch die von Baugerüsten eingerahmte, mit Geldern der malaysischen Regierung sanierte Moschee im Stadtzentrum ein paar hundert Meter südlich des Fußballfeldes.

Von den Stufen der Moschee aus hat man einen guten Blick auf den nur spärlich mit Ständen bestückten Marktplatz, der unterhalb der grau gestrichenen orthodoxen Kirche liegt. Hier betreibt Omer Spahic eine kleine Gaststätte, die wie viele andere Gebäude im Ort während des Krieges zerstört wurde. Auch den Wiederaufbau seines Hauses hat die islamische Regierung von Malaysia finanziert.

Mit Spahic am Tisch sitzt der bosnisch-muslimische Bürgermeister und schimpft über die Obstruktionspolitik der bosnisch-serbischen Behörden der Republika Srpska, auf deren Territorium Srebrenica heute liegt. »Karadzic dirigiert immer noch aus den Wäldern heraus die Dinge«, schüttelt Sefket Hafizovic den Kopf. Früher sei die Gegend um Srebrenica reich an Arbeit und reich an Waren gewesen, sagt das Mitglied der muslimisch-nationalistischen SDA, Kinos und Supermärkte belebten die Stadt. Heute gebe es hier nichts mehr, für das es sich zu leben lohne.

Im Mai hat aus diesem Grund die umstrittene Uno-Mission in Bosnien-Herzegowina (Unmibh) gemeinsam mit dem Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen (UNDP) ein Programm aufgelegt, das die einst blühende Industrieregion an der Grenze zu Serbien wieder in Schwung bringen soll. Bis zum Juni 1999 galt wegen der den Rückkehrern feindlichen Politik der Republika Srpska ein Finanzierungsembargo für Srebrenica und die umliegenden Gemeinden. Nun sollen einige ökologische Landarbeitsstätten am Rande der Stadt gefördert und Kleinunternehmen mit internationalen Geldern unterstützt werden, um neue Stellen zu schaffen. Doch auch von dem 12,5 Millionen Mark teuren, auf drei Jahre angelegten Infrastrukturprojekt hält Hafizovic nicht viel. »Viel Bürokratie, wenig Wiederaufbau«, murmelt er lakonisch.

Die Skepsis gegenüber dem Engagement internationaler Organisationen in Srebrenica ist verständlich. Als Wim Kok vor ein paar Wochen gemeinsam mit Hafizovic am Rande der 8 000 Einwohner zählenden Stadt das Denkmal für die Toten des Massakers von 1995 besuchte, lehnte es der inzwischen abgelöste niederländische Ministerpräsident ab, sich für den Fall der ostbosnischen Enklave zu entschuldigen.

»Wir sind keine Mörder«, wies Kok eine Mitverantwortung der so genannten Dutchbat von sich. Im Juli vor sieben Jahren hatten die 750 niederländischen Blauhelme die Uno-Schutzzone kampflos an die Einheiten Mladics übergeben.

Dabei waren vor dem Srebrenica-Bericht des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation, der das Kabinett Kok im April dieses Jahres zum Rücktritt bewegte, bereits ein Untersuchungsbericht des französischen Parlaments und der umfassende Report Kofi Annans erschienen. Beide Studien machten nicht nur die Führung der Uno-Mission in Bosnien (Unprofor), sondern auch die niederländische Regierung für das schlimmste Massaker seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa mitverantwortlich.

So ist es für den Bürgermeister kein Trost, dass der ehemalige niederländische Premier bei seinem Besuch höhere Kräfte für die Zurückhaltung der Dutchbats beim Tod von wahrscheinlich mehr als 7 000 Männern und Jungen verantwortlich machte. »Wir waren dort als Teil der internationalen Gemeinschaft, um für Sicherheit zu sorgen. Das aber hat sich als unmöglich erwiesen.« Neue Arbeitsplätze würden durch die bedauernden Worte nicht geschaffen, stellt Hafizovic nüchtern fest.

Hoffnung darauf, dass wenigstens eine der beiden Fabriken, die einst in Potocari, einem Dorf drei Kilometer nördlich von Srebrenica, Autobatterien herstellten, eines Tages wieder produzieren kann, hat er nicht. Auch dass die Bauxit- und Zinkminen im Süden und Osten der Stadt jemals wieder internationale Wettbewerbsfähigkeit erlangen, kann der Bürgermeister sich nicht vorstellen.

Wie Hafizovic denken viele in der Gemeinde, selbst wenn sie nicht zu den wenigen muslimischen Einwohnern zählen, die vor rund zwei Jahren begannen, an den Ort zurückzukehren. »Die Leute haben langsam begriffen, dass es wichtigere Probleme gibt als die Frage, welcher Nationalität jemand angehört«, glaubt Dejan Kolevic, der 1995 kurz nach dem Ende des Krieges aus einem der serbischen Vororte Sarajevos nach Srebrenica zog, weil ihm die muslimisch-kroatischen Behörden in der Hauptstadt das Leben unerträglich machten.

»Einen Job zu finden, genug zu essen zu haben, darum geht es doch«, sagt der Computerexperte, der sich um die EDV im örtlichen Büro der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) kümmert. Mit Politik will der 30jährige auch sieben Jahre nach Kriegsende nichts mehr zu tun haben. »Viele versuchen doch immer noch, das, was hier im Sommer 1995 geschehen ist, zu ihrem eigenen Vorteil zu missbrauchen. Es ist Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen und nach vorne zu schauen.«

Mujo Hasanovic kann das nicht. Der Vater von drei Kindern lebt seit dem vergangenen Sommer wieder in seinem Dorf im hügeligen Bergland rund zehn Kilometer westlich von Srebrenica. Mit dem Auto dauert die Fahrt über die schlechte Schotterpiste nach Suceska mehr als eine Stunde. Neben dem großen weißen Bauernhaus Hasanovics stehen vielleicht 20 der zierlichen, schmalen Grabsteine, mit denen die muslimischen Bewohner Bosniens ihre Toten ehren. Fast alle der weißen Pfeiler tragen die Jahreszahl 1992, als in Bosnien der Krieg begann.

Dem Dutzend Familien, die damals in Suceska lebten, gelang es, ihr Dorf bis zum Sommer 1995 gegen die Einheiten Mladics zu verteidigen, die die rund 30 Kilometer lange Grenze der Uno-Schutzzone seit 1993 immer wieder sporadisch überschritten hatten. »Aber am 10. Juli kamen die Serben von allen Seiten«, sagt der 42jährige Hasanovic und schaut zu den Hügeln in der Ferne. »Uns blieb nichts anderes übrig, als zu fliehen.« Gemeinsam mit seiner Familie und den anderen Dorfbewohnern lief er in die Richtung des Tals von Srebrenica, wo er sich von den niederländischen Blauhelmsoldaten Schutz vor den Angreifern erhoffte.

Vergebens. Wie durch ein Wunder gelang ihm die Flucht ins rund 50 Kilometer Fußmarsch entfernte Tuzla. Tausende andere Männer überlebten den Weg nicht. Nach der letzten Volkszählung vor dem Krieg lebten in der Opstina Srebrenica, dem Landkreis, der aus der Stadt und dem etwa 250 Quadratkilometer großen Umland besteht, 37 000 Menschen, von denen sich rund drei Viertel als Muslime bezeichneten, knapp 25 Prozent sahen sich als Serben, zwei Prozent als Jugoslawen.

Nach dem Massaker hat sich das Verhältnis deutlich geändert. Lediglich 350 bosnisch-muslimische Familien haben nach Angaben des Unmibh-Büros in Srebrenica bislang die Rückkehr gewagt. Nur einen der vielen Gründe, warum es nicht mehr sind, nennt Hasanovics Bruder Haijrudin, der nach dem Krieg nach Österreich zog: »Ohne Arbeit kann ich hier nicht leben. Das ist schon seit zehn Jahren unser Problem.«

So sind denn auch fast alle der offiziell 200 Beschäftigen in der Gemeinde bei internationalen Organisationen angestellt. Oder sie werden, wie die Beamten am Spielfeldrand, von der Regierung der Republika Srpska in Banja Luka bezahlt. »Am Ende des Jahres werden schon sechs oder sieben muslimische Polizisten Seite an Seite mit ihren serbischen Kollegen Dienst tun«, berichtet Raul Carrea von der Uno-Mission, die in zwei weißen Containern hinter dem schmucken Polizeigebäude untergebracht ist, stolz. Sieben von 100, immerhin. An dem warmen Abend im Juni sind es nur drei.