Alles, was Recht ist

Im Streit um den Internationalen Strafgerichtshof imaginiert sich Europa als zivile Gegenmacht zu einem gefährlichen Amerika.

Die USA handelten mit ihrer Ablehnung des neu gegründeten Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) »irrational«, meint die Frankfurter Rundschau. Amerika verhalte sich wie ein »Empire«, das »zu perfiden und erpresserischen Mitteln« greife. Der Spiegel findet das Vorgehen der USA dagegen sehr »rational«. Washington gehe es im Gegensatz zu Europa nicht um die weltweite Durchsetzung von »Rechtsstaat und Demokratie«. Die USA agierten vielmehr entweder aus der »Hybris einer ignoranten Supermacht« oder reagierten mit »Realpolitik in einer zusehends chaotischen Welt«.

Der unheimlich gewordene Verbündete jenseits des Atlantiks sorgt für Empörung quer durch alle Parteien und in allen europäischen Ländern. Der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi konstatiert: »Es ist ein weiterer Schritt zum Bruch zwischen Europa und den USA.« Nach der kurzzeitigen Einigkeit im transatlantischen Verhältnis seit dem 11. September sind die alten Gräben mit dem Eklat um den Strafgerichtshof wieder aufgebrochen.

Doch was ist eigentlich der Gegenstand des Streites, der so vehement ausgetragen wird? Am 1. Juli trat das »Statut von Rom« in Kraft. Mit ihm wird im niederländischen Den Haag ein internationaler Strafgerichtshof installiert, der im nächsten Jahr die Arbeit aufnehmen soll. Im Gegensatz zu den vom UN-Sicherheitsrat geschaffenen Tribunalen zu Jugoslawien und Ruanda, die regional und zeitlich begrenzt sind, wird der auf einem internationalen Vertragswerk beruhende IStGH eine dauerhafte Institution sein. Er soll Verbrechen wie »Völkermord«, »Verbrechen an der Menschlichkeit« und »Kriegsverbrechen« ahnden.

Verfechter der Idee des IStGH, zu denen auch viele Menschenrechtsgruppen zählen, hoffen auf eine globale Jurisdiktion, die dafür sorgt, dass Diktatoren und Kriegsverbrecher nicht mehr straflos davonkommen. Werden deren Verbrechen in ihren Ländern nicht strafrechtlich verfolgt, kann der IStGH aktiv werden und ein Verfahren eröffnen.

Die USA standen dem Projekt von Beginn an ablehnend gegenüber. Als das »Statut von Rom « im Juli 1998 von 120 Staaten beschlossen wurde und UN-Generalsekretär Kofi Annan davon schwärmte, dass in Zukunft »kein Machthaber, kein Staat, keine Junta und keine Armee irgendwo die Menschenrechte straflos verletzen kann«, sagten die USA einfach »no«. Unter keinen Umständen wollten sie akzeptieren, dass ihre eigenen Soldaten oder Politiker von einem internationalen Gericht zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Darin sind sich Demokraten und Republikaner weitgehend einig.

Zwar stimmten die USA, kurz bevor am Silvesterabend 2000 die Frist endgültig ablief, dem Vertrag doch noch zu. Allerdings nur, um Einfluss auf die mittlerweile unvermeidbar gewordene Konstitution des IStGH nehmen zu können. Im Mai zogen die USA ihre Unterschrift wieder zurück, denn mittlerweile hatten die notwendigen 60 Staaten das Statut ratifiziert und die Inkraftsetzung des Gerichtes zum 1. Juli auf die Tagesordnung gebracht.

Nach dem Rückzug beschlossen der US-Senat und das Repräsentantenhaus ein Gesetz, dass US-Bürgern jede Mitwirkung am IStGH verbietet. Theoretisch ist der Präsident sogar ermächtigt, das Militär einzusetzen, um US-Bürger vor dem Zugriff des künftigen Weltgerichtes zu schützen.

In der vergangenen Woche eskalierte der Konflikt, als die USA im UN-Sicherheitsrat damit drohten, ihre Truppen aus UN-Einsätzen zurückzuziehen, sollten ihre Soldaten keine Immunität vor dem IStGH erhalten. Um den Ernst der Lage zu unterstreichen, verweigerte Washington die anstehendeVerlängerung der UN-Mission in Bosnien-Herzegowina. Erst nach hektischen diplomatischen Auseinandersetzungen räumte die Bush-Administration eine Gnadenfrist bis zum 15. Juli ein, um eine Lösung zu finden.

Was wie ein diplomatisches Geplänkel anmutet, gewinnt dadurch Sprengkraft, dass sich beträchtliche Differenzen offenbaren, die weit mehr als die Frage nach einer internationalen Strafgerichtsbarkeit umfassen. Die Liste der Streitthemen ist lang. Amerika will sich nicht an den Klimaschutz halten, akzeptiert nicht das Verbot von Landminen und weigert sich, die Finanzmärkte zu kontrollieren. Die USA sind selbst protektionistisch, schreiben aber anderen die Öffnung der Märkte vor; sie halten sich nicht an multilaterale Verträge und wollen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen nicht unterbinden, lauten die vielfach wiederholten Vorwürfe aus Europa. In den USA hält man die EU für einen laschen Haufen, der nur Quertreiberei im Sinne hat.

So wundert es nicht, dass der Spiegel fordert, in der Auseinandersetzung um die »politische Gestaltung der Globalisierung« müsse ein »zweiter Pol« geschaffen werden. Den gibt es aber schon. Denn im Konflikt um den IStGH wird deutlich, dass es bei den Auseinandersetzungen zwischen den beiden Machtblöcken, die wirtschaftlich etwa gleich stark sind und miteinander konkurrieren, um grundlegende Unterschiede der politischen Konstitution geht.

Die EU ist, im Gegensatz zum Nationalstaat USA, trotz der deutschen Hegemonie ein heterogenes Gebilde, das von inneren Widersprüchen durchzogen ist. Multilateralismus, wie er sich im IStGH ausdrückt, entspricht also viel eher der politischen Aushandlungsform, mit der die EU versucht, Hegemonie herzustellen. Gleichzeitig hinkt Europa trotz aller Bemühungen, eine gemeinsame Militärpolitik zu schaffen, den USA auf diesem Feld hinterher. Gerade Deutschland macht aus dieser Not eine Tugend und versucht sich mit geschickten diplomatischen Initiativen als Global Player zu etablieren. Der IStGH wäre ein weiteres Instrument, das dafür benutzt werden könnte.

Vieles deutet also darauf hin, dass es beim Streit um das Strafgericht gar nicht so sehr um dieses selbst geht, sondern um die identitätsbildende Selbstvergewisserung der Rivalen auf beiden Seiten des Atlantiks. Denn die Argumente entstammen eher dem Bereich der Mythen als der Realität.

Natürlich bedroht der IStGH nicht ernsthaft hochrangige US-Politiker oder Militärs mit Strafverfolgung. Das Reglement sieht vor, nur dann aktiv zu werden, wenn eine Strafverfolgung im Herkunftsland der Kriegsverbrecher nicht gewährleistet ist. Es ist schwer vorstellbar, dass die unumstrittene militärische Hegemonialmacht als rechtloser »Schurkenstaat« behandelt wird. Zudem ist der UN-Sicherheitsrat, in dem die USA ein Vetorecht besitzen, befugt, jedes Verfahren auszusetzen. Für die Bush-Administration scheint es bei der Auseinandersetzung um ein Signal der Stärke zu gehen, das zeigen soll, dass niemand gegen die USA agieren kann, und ausdrückt, was man in Washington von der Uno hält.

Was andererseits von den europäischen Gerechtigkeitsfloskeln zu halten ist, erhellt ein Blick auf die Arbeit des Jugoslawientribunals in Den Haag. Das gilt den Verfechtern des IStGH als Vorbild. Die Bilanz sieht indes düster aus. Bisher wurde mit Slobodan Milosevic erst ein hochrangiger Politiker vor Gericht gestellt und der Mythos von der serbischen Hauptschuld an der Zerstörung Jugoslawiens noch einmal bestärkt.

Die beiden größten einzelnen ethnischen Säuberungsaktionen während der Kriege hingegen, die Vertreibung von über 200 000 Serben aus der Krajina durch kroatisches Militär im Jahr 1995 und die Vertreibung von etwa 250 000 Serben und Roma durch albanische Nationalisten aus dem Kosovo im Jahr 1999, bleiben vom Tribunal bislang ungesühnt. Obwohl die Nato-Militärs bei der Bombardierung Jugoslawiens in zahlreichen dokumentierten Fällen eindeutig gegen geltendes Kriegsrecht verstießen, lehnte das Tribunal Ermittlungen ab. Es ist ein Instrument, das dazu dient, das politische und militärische Eingreifen des Westens in den Konflikt nachträglich zu legitimieren.

Während Politik und Medien in gefühlvollen Metaphern vom angeblich bedrohten Weltgericht schwelgen, ist zumindest die FAZ realistisch. Statt den USA Selbstherrlichkeit vorzuwerfen, sollten die Europäer »lieber wägen, was globale Verantwortung mit sich bringt«. Schließlich könnten ja bald auch eigene Soldaten im Ausland in Kriegshandlungen verwickelt werden. »Warum sollten Anklagen gegen Bundeswehrsoldaten ausgeschlossen sein, wenn einen Potentaten deren Anwesenheit störte?«, fragt man sich in der Redaktion der »Zeitung für Deutschland«.