DGB-Kongress in Berlin

Ein Antrag geht noch

Der DGB will eine Kampagne für einen Mindestlohn, weiß aber noch nicht, wie hoch er sein soll. Beim DGB-Kongress blieben viele Fragen offen.

Als in der vergangenen Woche in Berlin der Kongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) tagte, wurde nicht nur der neue Vorsitzende Michael Sommer gewählt und den Ansprachen von zwei Kanzlerkandidaten und zwei Parteivorsitzenden gelauscht. Es musste auch über 179 Anträge entschieden werden. Doch diskutiert wurde dabei nur wenig.

Als der Antrag »Gleichstellungspolitisches Aktionsprogramm für Chancengleichheit von Frauen und Männern« aufgerufen wurde und der Tagungspräsident sagte, es lägen ganze drei Wortmeldungen vor, wurde es unruhig im Saal. Marianne Lutz, Betriebsrätin beim Stofftierhersteller Steiff, meldete sich zu Wort: »Eben sagte ein Kollege zu mir, 'Marianne, was willst du denn noch? Der Antrag wird doch angenommen!' Ich antwortete ihm, die Rechtslage ist ausgezeichnet. Aber die Lebensrealität der Frauen in den Betrieben unterscheidet sich leider immer noch gravierend von der der Männer.«

Diese kleine Szene spiegelte die Unlust der rund 400 Delegierten wider, auf dem Kongress ernsthaft miteinander zu diskutieren. So wurden Anträge zur Organisationspolitik, zum Bündnis für Arbeit, zur Zukunft der Arbeit, zur Globalisierung und zur Friedens- und Sicherheitspolitik ohne Debatte verabschiedet. Dagegen wurde hinter den Kulissen heftig über so manchen Antrag gestritten.

In einem Antrag des DGB-Landesbezirks Berlin-Brandenburg wurde das Bündnis für Arbeit kritisiert. Es werde seinem Namen nicht gerecht. Ein »konzeptioneller Fehler« bestünde darin, dass zentrale volkswirtschaftliche Faktoren wie die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, die Steuer- und Finanzpolitik der Bundesregierung und die Investitions- und Beschäftigungspolitik der Wirtschaft bei den Kaminrunden im Bundeskanzleramt »keine Rolle« spielten.

Weil Gewerkschafter ja davon ausgehen, dass alles besser wird, wenn nur die Binnennachfrage wächst, wurde in dem Antrag gefordert, das Bündnis nur dann fortzusetzen, wenn die genannten Punkte in die Gespräche einbezogen werden. Die Bundesregierung solle von ihrer »überzogenen Sparpolitik« Abstand nehmen und stattdessen einen »Beitrag zur stärkeren Binnennachfrage« leisten. Doch die so genannte Antragsberatungskommission empfahl die Ablehnung des Antrags. Dabei blieb sie auch, obwohl in einem »Abänderungsantrag« einige Formulierungen entschärft wurden.

Aus gutem Grund. »Wir brauchen das Bündnis. Doch wir wollen es auch kritisch begleiten«, sagte der neue Vorsitzende Sommer und forderte die Kommission auf, ihre Empfehlung zu ändern und den Antrag als »Material an den DGB-Bundesvorstand« zu überweisen. Der Kongress verzichtete auf eine Aussprache, und der Antrag landete als Material im Keller des DGB.

Nur einmal gab es dann doch noch so etwas wie Spannung. Es kam zu einer ersten Auseinandersetzung zwischen den beiden Großgewerkschaften Verdi und IG Metall. Denn gemeinsam mit der IG Bauen, Agrar, Umwelt (IG Bau) und der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) hatte Verdi den Antrag »Kampagne für ein existenzsicherndes Mindesteinkommen von 1 500 Euro« eingebracht.

Der DGB wurde aufgefordert, mit den Mitgliedsgewerkschaften eine »öffentlichkeitswirksame Kampagne zur Durchsetzung eines Mindesteinkommens von 1 500 Euro durchzuführen«. Damit solle vor allem die »Öffentlichkeit für die zunehmende Verbreitung von Niedriglöhnen sensibilisiert« und der »stillschweigenden Akzeptanz in der Gesellschaft für Beschäftigung zu Niedriglöhnen« der Boden entzogen werden.

Auf Verlangen der IG Metall wurde mit der Begründung, durch die Annahme eines solchen Antrags komme man in die Nähe eines staatlich festgelegten Mindestlohns und lasse sich in die Tarifautonomie reinreden, die Zahl von 1 500 Euro aus dem Antrag gestrichen. Das war Grund genug zum Streit: »Wir haben auch nicht pauschal Arbeitszeitverkürzung verlangt, sondern uns auf die 35-Stundenwoche festgelegt und wir haben auch nicht pauschal gesagt, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, sondern sechs Wochen Lohnfortzahlung«, argumentierte ein Redner der antragstellenden Gewerkschaften.

»Wenn wir eine solche Zahl beschließen und nach draußen gehen, wecken wir Erwartungen auf einen gesetzlichen Mindestlohn«, rief dagegen Sieghard Bender von der IG Metall den Delegierten zu. Andere Metaller sagten, mit dieser bezifferten Forderung mache man auf die Schwäche einiger Tarifverträge aufmerksam. So würden dann Beschäftigte in Niedriglohnbranchen wie der Textilindustrie oder bei den privaten Sicherheitsdiensten eine 50prozentige Tariferhöhung fordern. Und das kann ja wirklich keiner wollen.

»Es lässt sich leicht über die materielle Sicherheit der anderen reden, wenn man selbst davon nicht betroffen ist, wenn die eigene soziale Frage längst geklärt ist«, schimpfte Margot Gudd von der IG Bau. Undurchsichtige Konzepte gäbe es schon genug und deshalb müssten die Gewerkschaften sagen, was sie sich unter einem Mindesteinkommen vorstellen, forderte sie. Mit einer konkreten Zahl könne man Mitglieder wie auch Nichtmitglieder im Niedriglohnbereich mobilisieren, um so die Unternehmer zu zwingen, Tarifverträge abzuschließen, argumentierte der Tarifexperte der NGG, Reiner Wittorf.

Auch der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske forderte dazu auf, die Kampagne zu starten. Der DGB-Bundesvorstand solle sich demnächst Gedanken über die Höhe des Mindesteinkommens machen. Denn »wir brauchen einen Betrag, auf den wir uns verständigen können«, sagte er und sprach sich zugleich dagegen aus, gegen den Widerstand der IG Metall eine Zahl durchzudrücken: »Wir sollten nicht in eine Situation hineinsteuern, in der ein Teil von uns sagt, macht eure Kampagne ohne uns.«

Das war dann auch schon die spannendste Debatte auf dem Kongress. Unwidersprochen wurde kräftig für Rot-Grün geworben. »Vor vier Jahren hast du gesagt, du willst nicht alles anders, aber vieles besser machen«, sagte der DGB-Vorsitzende Sommer zu Bundeskanzler Gerhard Schröder. Doch es folgte nicht etwa Kritik, sondern überschwängliches Lob: »Es stimmt, du hast vieles besser gemacht!« Vielleicht war die Unterstützung für die Bundesregierung auch ein Grund für das optimistische Motto des Kongresses: »Neue Zeiten. Neue Chancen.« Aber keine neue Regierung.