Dan Tamir, Offizier der israelischen Armee, zur Befehlsverweigerung

»Die Besatzung bedroht Israel«

Dan Tamir ist Offizier der israelischen Armee und Aktivist der israelischen Friedensgruppe Yesh Gvul. Sie entstand 1982 im Zuge der Intervention im Libanon und unterstützt Soldaten dabei, repressive Maßnahmen gegen Zivilisten abzulehnen. Seit Ausbruch der »Al-Aqsa-Intifada« haben 1 100 israelische Militärangehörige, darunter viele hochrangige Offiziere sowie einige weibliche Armeeangehörge, bestimmte Befehle verweigert. Manche von ihnen, so auch Dan Tamir, wurden für einige Wochen inhaftiert.

Wie kam es zu Ihrer Verweigerung?

Früher dachte ich, dass wir eine Art »aufgeklärte Besatzung« betreiben, die durch den Friedensprozess mit einer Lösung des Konflikts enden würde. Aber mit dem Scheitern des Oslo-Prozesses wurde mir klar, dass die Besatzungspolitik, wie sie nun betrieben wird, nicht in eine friedliche Zukunft führen kann, sondern auch für uns selbst zu einer Bedrohung wird.

Wir sind heute nicht mehr auf einem Weg zu einer gemeinsamen Zukunft mit den Palästinensern, sondern werden von diesen nur noch als brutale Besatzungsmacht und als Bedrohung wahrgenommen. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, nicht mehr bei der Unterdrückung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten mitzuwirken.

»Yesh Gvul« heißt auf Hebräisch »Es gibt eine Grenze«. Die Grenze ist dabei nicht als territoriale zu verstehen, sondern als Grenze des Gewissens. Es ist die Grenze zwischen moralischen und unmoralischen Taten. Es gibt natürlich politische Gründe für die Verweigerung, aber im Wesentlichen sind es moralische. Ich wollte solche Befehle, die ich moralisch nicht vertreten kann, nicht länger befolgen.

Wie hat die Armee auf Ihre Verweigerung reagiert?

Keine Armee der Welt gibt gerne zu, dass es so viele Verweigerer und Verweigererinnen gibt. Deshalb wurden von 1 100 offiziellen Verweigerern - ich weiß nicht, wie viele sich noch mit irgendwelchen Ausreden dem Militärdienst entzogen haben - nur 120, darunter auch ich, inhaftiert. Ich muss aber sagen, dass diese Haft nicht so schlimm war. Was meine Zelle in ein Fünf-Sterne-Hotel verwandelt hat, war die Solidarität, die mir aus Israel und der ganzen Welt entgegenkam.

Als sich Soldaten im Libanon-Krieg verweigert hatten, wurden sie in der Haft noch bedroht. Mir erging es schon ganz anders. Viele Leute im Gefängnis sagten mir, dass sie meine Verweigerung nicht billigen. Aber sie waren bereit, mit mir zu diskutieren und meinen Argumenten zuzuhören. Ich habe viel Respekt für meine Entscheidung erhalten. Hier hat sich etwas in der israelischen Gesellschaft verändert.

Das zeigen auch die Umfragen der letzten Zeit, nach denen 22 bis 24 Prozent der israelischen Bevölkerung die Verweigerer in den besetzten Gebieten unterstützen. Seit der Erklärung »Mut zur Verweigerung« ist die israelische Friedensbewegung und Linke wieder aufgewacht und kann heute mit viel größerem Verständnis in der Bevölkerung rechnen als noch vor einigen Monaten.

Wie hätte Ihrer Meinung nach die israelische Regierung auf die immense Zunahme von Anschlägen und Selbstmordattentaten gegen israelische Zivilisten reagieren sollen?

Ich betrachte jeden Anschlag und jede Gewalt gegen die zivile Bevölkerung als Terrorismus, da gibt es nichts zu diskutieren.

Die Frage ist aber, wie dieser Terrorismus effektiv bekämpft werden kann. Ich denke, dass die Annahme falsch ist, der Terrorismus sei ausschließlich eine militärische Frage und bedürfe deshalb einer militärische Antwort. Die logistische Infrastruktur des Terrors, die die israelische Regierung mit den Militäroperationen zerstören will, ist im Vergleich zu den sozialen, wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Ursachen des Terrorismus nur von geringer Bedeutung.

Eine schlechte politische Situation, Hoffnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Probleme bilden die wirkliche soziale und politische Infrastruktur des Terrorismus.

Um diese Ursachen zu ändern, bedürfte es aber langfristiger Bemühungen und Strategien. Es würde lange dauern, die Lebenssituation der palästinensischen Bevölkerung so zu verbessern, dass die von Ihnen genannten Ursachen des Terrorismus nicht mehr vorhanden wären. Wie wäre der Terror gegen die Zivilbevölkerung bis dahin zu stoppen?

Zunächst einmal gibt es keinerlei Garantien für das Ende des Terrors. Aber ich versuche mir vorzustellen, was einen Mann, einen Vater von vier oder fünf Kindern, oder ein junges Mädchen, 17 Jahre alt, aus einer intakten Familie und mit einer guten Schulbildung, dazu treibt, sich selbst in die Luft zu sprengen, um damit andere Zivilisten zu ermorden. Was bringt diese Leute zu solchen Selbstmordattentaten?

Etwa ein Drittel der israelischen Bevölkerung, die so genannte palästinensische Bevölkerung, die ja auch zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer lebt, ist unterdrückt und lebt unter der Besatzung. Diese Besatzung muss beendet werden.

Mit einer Integration dieser Gebiete oder mit einer Grenze? Es gibt mittlerweile auch rechte Israelis, die für einen Rückzug aus den besetzten Gebieten und den Bau einer hohen Mauer um Israel eintreten.

Das Ende der Besatzung ist die Grundvoraussetzung für alles weitere. Was danach sein wird, ist eine andere Frage. Ich möchte Frieden. Aber es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit und es gibt keine Gerechtigkeit ohne Gleichheit. Ob diese Gleichheit in zwei getrennten oder in einem gemeinsamen Staat verwirklicht werden kann, ist eine andere Frage. Ich glaube, dass es nichts Positives ist, neue Mauern zu bauen. Ich möchte mein kleines Land nicht durch eine Mauer geteilt sehen. Aber das ist meine private Meinung.

Ist Yesh Gvul für eine einseitige Aufhebung der Besatzung, oder glauben Sie, dass es mit Arafat ein bilaterales Friedensabkommen geben kann?

Auf diese konkrete und sehr wichtige Frage würde ich lieber nicht als Vertreter von Yesh Gvul antworten, sondern als Dan Tamir. Meiner Meinung nach ist Yassir Arafat ein Dieb, Lügner, Terrorist und Tyrann. Es gibt keine Rechtfertigungen für Terror gegen Zivilisten, wie er von der Autonomiebehörde unterstützt wird.

Ich könnte Ihnen auch stundenlang von den Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Autonomiegebiete durch Arafat und seine Clique von Banditen erzählen, aber das hat keinen Sinn.

Ich weiß, dass die heutige Situation für mein Land und meine Leute gefährlich ist. Und ich weiß, dass sowohl die Besatzung durch das israelische Militär als auch die Herrschaft dieser Autonomiebehörde abzulehnen sind. Deshalb möchte ich weder Teil der israelischen Besatzung sein noch die palästinensische Verwaltung unterstützen.

Ich hoffe sehr, dass sich in den besetzten Gebieten eine demokratische Regierung entwickeln kann und die autokratische Führung Arafats die Macht verliert.

Sehen Sie dafür Ansätze? Gibt es in den besetzten Gebieten Gruppen oder einzelne Intellektuelle, mit denen Sie heute noch in einem Dialog stehen?

Ja, es gibt palästinensische Intellektuelle, nicht Vertreter von Arafats Terror-Herzogtum, mit denen ein Dialog möglich ist und die für einen echten Frieden eintreten. Es tut mir sehr leid, dass die palästinensische Öffentlichkeit genauso wie die israelische von nationalistischen Extremisten erobert wurde.

Deshalb müssen wir, Palästinenser und Israelis, jetzt für mehr Toleranz und Friedenswillen kämpfen und uns nicht gegeneinander aufhetzen lassen.