Die Linke und der 11. September

Nothing Left to Lose

Schluss mit linker Nabelschau! Das Scheitern einer sachlichen Selbstverständigung nach dem 11. September legt es nahe, neue Diskussionen zu führen.

Es ist schon toll, wie sich deutsche Linke jeder Couleur derzeit mit zweifelhaftem Ruhm bekleckern. Da schimpft der Trotzkist den Antideutschen einen »autoritären Linken«, obwohl es Protagonisten seiner Bewegung sind, die auf starke Staaten auch nach der Revolution nicht verzichten wollen. (Jungle World, 7/02) Aus dem Dunstkreis des frisch gewendeten Hamburger Zentralorgans für bürgerliche Verschwörungstheorie wiederum ereilt einen der verblüffende Vorschlag, »im Haus des Henkers vom Strick zu reden und nicht nur in anderen Häusern danach zu suchen«. (Jungle World, 9/02)

Aufklärerisch argumentierende Analytiker schließlich verfangen sich derart in den Fallstricken der bürgerlichen Ideale, dass am Ende nur ein Zweikampf unter Männern stehen kann. The sparring partner tonight: Wilhelm Reichs best friend, Dr. Jürgen Elsässer. (Jungle World, 6/02)

Nein, in Zeiten, in denen glaubwürdige linke Sprecherinnen oder Sprecher weit und breit nicht zu vernehmen sind, bringt der Rückzug auf Personalschlachten zwischen abgehalfterten Größen längst verlorener Kämpfe nichts. Allein der Gedanke, die Szenestreitigkeiten der Neunziger ließen sich auf ein neues emanzipatorisches Niveau heben, nur weil nach dem 11. September 2001 nichts mehr so sein soll, wie es einmal war, lässt einen erschaudern. Ein Einschnitt im Denken deutscher Linker folgte dem viel beschworenen historischen Einschnitt jedenfalls nicht.

Stattdessen tauchen jene sich selbst erhaltenden Systeme sozialer Störungen wieder auf, die eigenständige linke Politikansätze schon in den vergangenen Jahren weitgehend ersetzt haben. Auch in dieser Zeitung sind die meisten Diskussionen gekennzeichnet von einem offenbar nicht zu überwindenden Dualismus. Unbeeindruckt von der stets behaupteten Distanz zur »Bewegung«, prallen die Vertreter unterschiedlicher theoretischer Schulen immer wieder an denselben Punkten aufeinander, und, so scheint es manchmal, kompensieren auf diese Weise ihre Sehnsucht nach dem besseren Spielzeug für den Streit im Sandkasten.

Hundertfach gewogene und dutzendfach verworfene Argumente werden stets aufs Neue reproduziert, doch wohin das praktisch führen soll, fragt keiner - zumindest nicht vernehmbar. Worum es dabei politisch gehen könnte, ist nur auf den ersten Blick klar: Stärke beweisen in der eigenen Szene, kein Fußbreit dem - ja, wem eigentlich?

»Wir wollen keine Welt, in der die Garantie, nicht zu verhungern, mit der Gefahr erkauft wird, vor Langeweile zu sterben«, schrieb Raoul Vaneigem 1967 in seinem situationistischen »Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen«. Doch was neben der radikalen Verknüpfung der Kämpfe für einen besseren Alltag mit denen um mehr gesellschaftliche Macht bis weit in die achtziger Jahre hinein zum linken Selbstverständnis zählte - Menschen zu überzeugen -, scheint nicht mehr zu interessieren. Warum in die Ferne schweifen, wenn man am rechten Rand ohnehin niemanden abholen will und darüber hinaus schon die eigenen Reihen vor Antisemiten, verkürzten Kapitalismuskritikern und weiteren Renegaten nur so strotzen?

Nichtlinken jedenfalls ist diese schon in ihrer Anlage unsoziale Praxis kaum noch zu vermitteln, ebenso wenig wie außerhalb Deutschlands lebenden Menschen. »So Jungle World and Axel Springer have something in common«, konstatierte kopfschüttelnd etwa der Direktor des American Jewish Committee, David Harris. Angesichts der uneingeschränkten Solidarität, die die beiden ungleichen Verlage den Kriegen des Staates Israel zukommen lassen, runzelte auch ein norwegischer Gesprächspartner ungläubig die Stirn und fragte: »A left German position, what's that?«

Ja, what's left? Was ist übrig geblieben vom Aufbruch der deutschen Linken nach der Wiedervereinigung und dem Golf-Krieg? Die gesellschaftlichen Grundübel der Neunziger - Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus, Neofaschismus und Neoliberalismus samt der damit verbundenen inneren Aufrüstung - wurden zwar rasch erkannt, doch der linke Alleinvertretungsanspruch auf deren Bekämpfung ging schon lange vor dem so genannten Aufstand der Anständigen flöten.

Auch Antigen- und Antibiotech-AktivistInnen haben die genetische Ausbeutung von Mensch, Pflanze und Tier nicht verhindern können, sie müssen heute hinnehmen, dass ausgerechnet Christdemokraten und Bischöfe die letzte Kolonne im Kampf gegen künstliche Lebewesen bilden. Der Castor rollt jedes Jahr aufs Neue, was natürlich nicht dagegen spricht, den Tag X auch zum xten Male auszurufen.

Was die Linke noch 1995 nach dem Ende des Bosnien-Krieges einte, war das bis in die Reihen der Sozialdemokratie reichende antimilitaristische Paradigma der alten Bundesrepublik: kein deutscher Soldat nach nirgendwo.

Spätestens der Kosovo-Krieg aber erschütterte das gefestigte Weltbild. Kein Krieg nirgends? Wer es ernst nahm mit dem aus den Menschheitsverbrechen der Nazis erwachsenen Dogma, musste nicht erst mit den Terroranschlägen von Washington und New York nachdenklich werden. Stattdessen entdeckten so genannte Antideutsche 1999 in der Ablehnung Slobodan Milosevics eine unüberbrückbare Differenz zu antinationalen AktivistInnen. Doch warum sollte, wer auf deutsche Fahnenträger pfeift, serbischen die Stange halten?

Und welche außer der erbämlichen Erkenntnis, dass Kriege zwar nie das beste, manchmal aber das letzte Mittel sind, um ein Land vor Angriffen zu schützen, haben die linken Debatten über den 11. September denn gebracht? Vielleicht die, dass islamistische Bewegungen nicht nur militant und antisemitisch, sondern auch mörderischer Massaker fähig sein können?

Die Fragen legen offen, was auch die überraschende Rückkehr zu realpolitischen Analyserastern nach den Anschlägen in den USA nicht verdecken kann: das rastlose Aufspüren der Renegaten in den eigenen Reihen, kurz, die gruselige Geschichte kleiner linker Nabelschauen. Der Verlauf der Flügelkämpfe mag sich über die Jahre verändert haben, der Gegner aber sitzt weiter im eigenen Nest. Lauthals propagierte etwa der damalige Jungle World-Herausgeber Elsässer schon vor gut vier Jahren das Ende der Linken. »Die allermeisten Linken waren, sind und bleiben Spießer, Reaktionäre, Antisemiten.« (Jungle World, 49/97)

Getoppt wurde die lange Kontinuität selbst gewählter Isolation allerdings von den Kiezkämpfen nach dem 11. September. So sucht Elsässer sein Glück seither in der Welt der national befreiten Zonen, zum Bündnispartner avanciert ist der Antipode von einst: »Ironie der Geschichte, die von Antinationalen gesäuberte junge Welt« (konkret, 2/02).

Eine üble Gesellschaft, wie der heutige konkret-Redakteur vor vier Jahren noch selbst befand: »Trotz der radikalen Rechtswende nach dem Rausschmiss der alten Redaktion im Juni 1997 haben 2 000, höchstens 3 000 das Abonnement gekündigt - etwa 10 000 goutieren den neu aufgelegten Antisemitismus oder schlucken ihn zumindest.« (Jungle World, 49/97)

Überzeugender argumentierende Autoren verbreiten ihre Vorwürfe inzwischen lieber gleich in der antimilitaristischen Anarchopresse, obwohl sie selbst jahrelang nicht zimperlich waren, wenn es um das Dissen des verstecktesten Ansatzes von Antisemitismus ging. Allerdings hat Alfred Schobert vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (Diss) im diskursiv entscheidenden Punkt Recht. »Die Ankündigung, die Diskussion werde fortgesetzt, wirkte eher als Drohung denn als Versprechen«, kritisiert er die politische Kommunikationskultur nicht zuletzt dieser Zeitung. (graswurzelrevolution, 2/02)

Gerade deshalb muss die Diskussion auf andere Weise fortgesetzt werden, und darum ist dieser Text auch nicht als Plädoyer gegen politisch notwendige Trennungen misszuverstehen. Im Gegenteil. Je zerstrittener die Szenen, desto mehr kann in Bewegung geraten. Wenn der Ton stimmt, tut konfrontativer Streit gut, denn neue Räume schaffen neue Situationen, schaffen andere Diskussionen.

Vielleicht können Außenstehende ja, um ein Beispiel zu nennen, nachvollziehen, was es für die Redakteure dieser Zeitung bedeutet, kein Büro mehr teilen zu müssen mit dem schreibenden Anhang der nationalen PDS-Pappnasen. Gabi Zimmer soll ihre erste Brandenburger Banane alleine essen! Wir wollen keine junge, sondern eine bessere Welt!

Fertige Handlungsanleitungen, das Versprechen einzulösen, gibt es natürlich nicht, denn auch im Zeitalter von Globalisierung und unterschiedlich begründeter Kapitalismuskritik verlangt jede radikale Praxis nach ihren eigenen Gesetzen.

Wie lange aber soll man noch damit warten, die vor der Chiffre 11. September getürmten Begriffe endlich wieder zu ordnen? Und wann, wenn nicht nach diesem verflixten 11. September, wäre es sonst an der Zeit, die politisch verwertbaren Argumente endlich von denen zu trennen, die nicht gestochen haben? Von wem und in welchem Kiez auch immer.