Der Islam und der Krieg

Konjunktur für Barbiere

Zu den kuriosesten Aspekten des Afghanistan-Krieges gehört der Eifer, mit dem westliche Politiker derzeit das Wesen des Islam zu ergründen suchen. Große Teile der Linken und der Friedensbewegung unterstellen den USA und Großbritannien, sie würden einen Krieg »gegen den Islam« führen. Doch abgesehen von einer einzigen Äußerung des US-Präsidenten George W. Bush, der einige Tage nach den Anschlägen vom 11. September von einem bevorstehenden Kreuzzug sprach, gibt es dafür keinen Beleg.

Vielmehr wird einhellig betont, dass der Islam eine friedliche und tolerante Religion sei, die nur von einigen Extremisten missbraucht werde. Schaut man sich allerdings die vom Westen gelobten Vertreter dieser Toleranz an, relativiert sich das Bild. Denn zu ihnen gehören Staatschefs wie der ägyptische Präsident Hosni Mubarak, dessen Regime jüngst 23 Männer wegen Homosexualität zu Gefängnisstrafen verurteilen ließ (siehe Seite 22).

Die Muster der Entwicklung in Europa, wo der Kampf gegen Kirche und Christentum ein zentrales Thema der bürgerlichen Revolutionen und der sozialistischen Bewegung war, lassen sich nicht umstandslos auf die islamische Welt übertragen. Doch nur der Weg der Säkularisierung kann ein anderer sein. Die Lösung von vermeintlich göttlichen Geboten und die Überwindung der Religion als Legitimation von Herrschaft, Patriarchat und Ungleichheit ist auch in der islamischen Welt unerlässlich für jede gesellschaftliche Emanzipation.

Eine solche Emanzipationsbewegung muss sich gleichermaßen gegen die islamistische Bewegung wie gegen den Staatsislam à la Mubarak richten. Sie kommt damit schnell in Konflikt mit westlichen Interessen. Islamistische und nationalistische Strömungen in den palästinensischen Gebieten lassen sich für die Interessen der EU instrumentalisieren. Die aufständischen algerischen Jugendlichen, die gegen das Militärregime, den Islamismus und die soziale Misere protestieren, haben in der westlichen Politik keine Fürsprecher.

Vor allem schätzen die westlichen Staaten »den Islam« als Integrationskraft und als Herrschaftsinstrument. Die Instrumentalisierung der Religion wird umso wichtiger, je weniger Aussicht auf ein besseres Leben die Menschen haben. So ist es kein Zufall, dass in Afghanistan Islamisten gegen Islamisten kämpfen.

Nach 20 Kriegsjahren reicht aber auch die Religion nicht mehr aus, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Den Taliban gelang es, den größten Teil des Landes für einige Jahre mit Gewalt zu einen. Doch mit ihrem ideologischen Extremismus haben sie den Bogen überspannt. Sie hatten der Sharia noch einige selbst erdachte Gebote hinzugefügt. Ihre wohl bizarrste Erfindung war die vorgeschriebene Mindestlänge des Bartes. Gehorsam genügte ihnen nicht, jeder Afghane sollte sich auch äußerlich ihrem Vorbild anpassen.

Kein Wunder also, dass sich nach der Vertreibung der Taliban in den Städten Afghanistans lange Schlangen vor den Barbierläden bildeten. Werden die Männer, die sich den Bart kürzen ließen, Widerstand leisten, wenn die Warlords der Nordallianz ihre »gemäßigte« Version der Sharia einzuführen versuchen? Immerhin ist die Opposition gegen den Islamismus in Algerien und im Iran am stärksten, in Ländern also, in denen die Menschen erfahren haben, was Islamismus an der Macht bedeutet.

Doch wo konkurrierende Warlords das ohnehin magere gesellschaftliche Mehrprodukt mit Gewalt eintreiben, ist es den Menschen fast unmöglich, sich entsprechend ihren sozialen Interessen zu organisieren. Der Sieg der Nordallianz droht die Warlordisierung weiter zu vertiefen. So richtet die afghanische Bevölkerung ihre Hoffnungen jetzt auf einen neuen Erlöser: Uno-Truppen sollen die Herrschaft der Warlords beenden. Auf die Rettung durch Blauhelme zu hoffen, ist jedoch auch nicht sinnvoller als zu beten.