Jürgen Grässlin, Sprecher der DFG-VK, über Militärschläge der Nato

»Kriege werden bewusst inszeniert«

Unmittelbar nach den Terroranschlägen in den USA meldeten sich in Deutschland Friedensgruppen zu Wort, die vor militärischer Vergeltung warnten. In vielen Städten kam es zu Protesten gegen die mögliche Reaktion der Nato. Zu diesen Demonstrationen rief auch die Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen auf. Die DFG-VK wurde 1892 von Bertha von Suttner gegründet und ist damit die älteste deutsche Friedensorganisation.

Warum sollte man jetzt auf die Straße gehen und demonstrieren?

Ich finde es wichtig, dass die Friedensbewegung gegen jede Form von Gewalt demonstriert. Wir lehnen die Terroranschläge ebenso ab wie die militärischen Reaktionen seitens der USA, der Nato oder der Bundeswehr. Wir sollten die Sicht der Opfer vertreten, die es im World Trade Center gab und die es wahrscheinlich in noch viel höherer Zahl in Afghanistan oder im Irak geben wird.

Seit dem Vietnam-Krieg hat sich das Verhältnis von militärischen und zivilen Opfern in Kriegen und bei Gewaltanschlägen verändert. Heute sind neun Zehntel aller Opfer zivile Opfer, die unschuldig sind an dem, was Politiker entscheiden oder Terroristen planen und durchführen.

Aber es scheint doch wie auf Knopfdruck zu funktionieren, wenn nun die Friedensbewegung sagt, ja, die Terroranschläge waren schlimm, aber jetzt sind wir erst mal gegen die Antwort der USA. Kommt das alte Feindbild wieder zur Wirkung?

Ich lehne das Feindbild islamischer Terroristen ab, die mit Bombengewalt den so genannten Imperialismus besiegen wollen. Aber ich finde es andererseits auch völlig verwerflich, eine Weltreligion zum Feindbild zu erklären oder Personen wie bin Laden, dem man die Schuld bisher offenbarnoch gar nicht nachweisen kann, zum Abschuss frei zu geben. Hier wird Völkerrecht mit Füßen getreten. Doch gerade das Völkerrecht sollte von der Friedens- und Menschenrechtsbewegung in den Mittelpunkt gerückt werden. Wir müssen darauf beharren, dass nicht jeder beliebige Staat, wie es Nato-Staaten in den letzten Jahren wiederholt getan haben, Völkerrecht brechen, die Vereinten Nationen marginalisieren und eine Weltordnung installieren kann, die den Interessen der Supermacht USA oder den Interessen terroristischer Gruppen dient.

Wie sollten denn die USA auf diesen Anschlag mit über 6 000 Toten reagieren?

Ich kann die tiefe Betroffenheit in den USA nachvollziehen. Man darf auf der anderen Seite aber keinesfalls vergessen, dass die USA nicht völlig überraschend Ziel dieser Anschläge geworden sind. Sie haben seit Jahrzehnten mit militärischen und monetären Mitteln Demokratien gestürzt, Diktaturen installiert und und Staaten bombardiert - beispielsweise in Hiroshima, Vietnam, Chile, Nicaragua, Libyen und Irak. Da wurde und wird Völkerrecht mit Füßen getreten, sodass es mich einerseits nicht wundert, andererseits aber entsetzt, mit welcher Skrupellosigkeit die Terroristen in den USA vorgegangen sind.

Nichts legitimiert die beiderseitige Gewaltanwendung. Besonnenheit ist gefragt. Die Terroristen müssten mit polizeilichen Maßnahmen festgesetzt werden, dazu kann man wirtschaftlichen und politischen Druck auf Afghanistan ausüben. Ein erster Schritt ist getan, indem die Nachbarstaaten erklärt haben, dass sie Terror ablehnen und Afghanistan zur Auslieferung bin Ladens auffordern. Vor einem internationalen Gericht müsste ein fairer Prozess stattfinden und im Falle seiner Schuld eine lebenslange Haft verhängt werden, keinesfalls die Todesstrafe.

Sind Hiroshima und Bagdad nicht untaugliche Beispiele für Völkerrechtsverletzungen? Haben nicht die Japaner damals einen sehr aggressiven Krieg geführt und hat nicht der Irak Kuwait überfallen und besetzt?

Kriege werden bewusst inszeniert und auch eskaliert. Dazu gehören immer zwei, wenn nicht mehrere Seiten. Ich pflege nicht das Feindbild USA und behaupte nicht nur, die bösen Amerikaner haben Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki geworfen. Wenn ich gesagt habe, es sei nicht überraschend, dass das World Trade Center und das Pentagon als wirtschaftliche und militärische Schaltzentralen getroffen wurden, dann kann man natürlich umgekehrt entgegenhalten, dass es nicht überraschend war, dass die Amerikaner - mit all dem Zynismus und der Rücksichtslosigkeit, wie sie diese Tat verübt haben - Bomben über Japan abgeworfen haben. Denn japanische Soldaten agierten auch als Massenschlächter im Zweiten Weltkrieg.

Der entscheidende Punkt aber ist: Sowohl die Anschläge in den USA als auch die Atombombenabwürfe auf Japan zeigen, dass die Opfer in der Regel unschuldige Zivilisten sind und dass militärische Gewalt dazu führt, dass die Eskalationsschraube angezogen wird.

Ist es gegenüber den Opfern in den USA nicht zynisch, wenn man sagt, es war klar, dass es irgendwann so kommt?

Ich bin kein Anti-Amerikaner. Wenn ich so argumentiere, basiert mein Denken nicht auf einer anti-amerikanischen Haltung. Ich stelle die Wahrung von Menschenrechten in den Mittelpunkt des friedenspolitischen Handelns. Allerdings kann ich an der amerikanischen Argumentation nicht nachvollziehen, dass man sagt, mit dem 11. September habe der Krieg gegen die USA begonnen, der erste Krieg des 21. Jahrhunderts. Derzeit toben etwa vierzig Kriege weltweit. Das Neue daran ist sowohl die Skrupellosigkeit der Tat als auch die Tatsache, dass der Krieg amerikanischen Boden und die amerikanischen Bürger erreicht hat. Das ist der Unterschied.

Warum hört man von der Friedensbewegung so wenig zum Thema Israel? In Israel werden aus Angst vor Terroranschlägen bereits wieder Gasmasken verteilt.

Man schmiedet jetzt in der so genannten zivilisierten Welt ein Bündnis gegen Terror. Dieses Bündnis richtet sich gegen arabischen Terror und wird dafür instrumentalisiert, eigene Menschenrechtsverletzungen zu legitimieren. Ein klassisches Beispiel ist der Besuch des russischen Präsidenten Putin in Berlin, der die Terror-Anschläge auf die USA instrumentalisiert hat, um die Bundesregierung zum Schweigen zu bringen hinsichtlich der Menschenrechtsverletzungen, die die russische Armee in Tschetschenien begangen hat.

In Israel werden auf der einen Seite Gasmasken ausgeteilt, auf der anderen Seite nutzt die israelische Regierung die Situation, um verschärft Militärschläge gegen Palästinenser zu führen. Dort werden auch Morde begangen. Aber man darf natürlich nicht vergessen, dass auch auf Seiten der Palästinenser verstärkt gemordet wird.

Schon seit längerem wird Schreckliches aus Afghanistan berichtet. Über die Situation der Frauen und die Intoleranz gegenüber anderen Religionen, etwa dass Hindus dort einen Stofffetzen tragen müssen, um jederzeit als solche erkennbar zu sein, oder die öffentlichen Steinigungen. Wie könnte man die Lage in Afghanistan ändern?

Das Regierungssystem in Afghanistan ist diktatorisch, die Frage ist nur, wie stürzt man eine Diktatur? Ich halte mehr davon, den politischen Widerstand im Land zu stärken und mit demokratischen Mitteln dagegen zu agieren, statt Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten.

Aber gab es in der Geschichte nicht Momente, in denen der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt war? War das Vorgehen der Roten Armee gegen Hitler nicht notwendig?

Das Beispiel Rote Armee zeigt, wie problematisch diese Argumentation ist. Die Rote Armee war selbst an schlimmsten Menschenrechtsverletzungen beteiligt und es gab Millionen von Toten und Folteropfern auf beiden Seiten.

Aber immerhin hat sie Auschwitz befreit.

Nachdem man sechs Jahre lang zugeschaut und Juden ausgeliefert hat an das deutsche Regime, auch Staaten wie die Schweiz oder Frankreich, die sich nachher die Hände in Unschuld gewaschen haben. Das zeigt, wie zynisch Politik gegenüber Opfern ist. Diese gilt es jetzt zu vermeiden. Care-Pakete statt Raketen - das muss unser Motto sein!