Frankreich diskutiert über die Anschläge

Die Teilzeit-Amerikaner

Nicht jeder, der über die Anschläge in den USA philosophiert, ist ein Philosoph. Eine französische Presseschau.

Auch viele Franzosen bezeichnen sich derzeit als Amerikaner. Das Publikum fühlt sich den New Yorkern umso näher, als Paris und andere Städte des Landes vor allem in den Jahren 1995 und 1996 ebenfalls zum Ziel eines auf größtmögliche Opferzahlen zielenden Terrorismus wurden.

Mutmaßliche Mitglieder der GIA (Bewaffnete Islamische Gruppen) aus Algerien, aber auch junge Islamisten aus den französischen Banlieues machten damals Metrostationen und voll besetzte Vorortzüge zum Schauplatz von Bombenattentaten. Die französischen Medien bildeten die Debatte um die Ursache dieses auch »hausgemachten« Terrorismus ab. Insbesondere im Vergleich zu den Reaktionen auf den westdeutschen so genannten Linksterrorismus der siebziger Jahre, der im Unterschied zu den Pariser Metro-Anschlägen nicht explizit auf die Bevölkerung zielte, wurden diese Anschläge erstaunlich sachlich kommentiert.

Die Pariser Abendzeitung Le Monde hatte während des Höhepunkts der damaligen Anschlagswelle, Anfang Oktober 1995, eine ausführliche Analyse des Werdegangs der Schlüsselfigur des in französischen Banlieues entstandenen Terroristennetzes, Khaled Kelkal, mit einem Kommentar begleitet, der die Überschrift trug: »Khaled Kelkal, Opfer des alltäglichen Rassismus«.

Wie reagiert nun die französische Presse auf die Anschläge vom 11. September? Kaum Mühe, eine politische Linie zu finden, hatte der konservative Figaro; die Redaktion steht stramm hinter der Politik der US-Administration inklusive der geplanten militärischen Vergeltungsmaßnahmen, und zwar auch dann, wenn sie einen ähnlichen Verlauf nehmen sollten wie der Krieg gegen den Irak im Jahr 1991. So schreibt der Leitartikler Michel Schifres: »Was in Frankreich lähmend wirkt, das ist die ðIntelligenzÐ. Gemeint sind die Sorge um das Verständnis für den anderen, die Verweigerung eines manichäischen Schwarz-Weiß-Denkens, der Wille zu differenzieren. Gemeint ist auch, (...) die Versuchung des Aufgebens, des Sich-Gehenlassens im weichen Daunenflaum der aufgeschobenen Entscheidungen und der illusorischen Hoffnungen.« All das, resümiert er unter Anspielung auf das Münchner Abkommen 1938, habe man früher, den »esprit munichois« genannt.

Für einen Teil der Redaktion ist es vorrangig, nun endlich auch eine stärkere militärische und weltpolitische Rolle Europas neben den USA einzufordern. So erklärt der Leitartikler Charles Lambroschini, es sei höchste Zeit, »dass Europa (...) einen größeren Anteil an der westlichen Verteidigungslast übernimmt. Wenn den USA, die Formel des Golfkriegs (1991) wieder aufnehmend, die Aufstellung einer militärischen Koaltion gelingt, (...) dann werden also französische, britische und selbst deutsche Kontingente in der ersten Reihe stehen müssen.«

Ein Anliegen ist besonders dem Rechtsausleger der Redaktion, Max Clos, wichtig. Clos, der 1988 vom Chefredakteur zum Redakteur zurückgestuft wurde, weil er zu offensichtlich für ein Bündnis der Konservativen mit dem Neofaschisten Jean-Marie Le Pen eintrat, will neben dem internationalen Feldzug auch den Kampf gegen den inneren Feind führen. Damit ist die arabische und vor allem die maghrebinische Bevölkerung in Frankreich gemeint, oder jedenfalls ihr unruhiger Teil. So will er von einem antiarabischen Rassismus, der seit dem 11. September gewachsen sei, nichts hören. Er stellt die rhetorische Frage: »Wer ist Opfer, die Muslime oder die 7 000 Toten von New York und Washington?« So, als ob das eine das andere zwingend ausschlösse.

Clos fährt fort, indem er eine Demonstration von migrantischen Jugendlichen gegen die Polizeigewalt in den Banlieues anlässlich des Prozesses gegen einen Polizisten, der einen 18jährigen getötet hatte, beschreibt, und fragt hämisch: »Das Bild eines pazifistischen Islam? Ein ðheiliger KriegÐ ist dem Westen erklärt worden. Wir sind in Gefahr, in einer Notwehrlage, und der Feind ist identifiziert. Wir haben die Wahl, zu kämpfen oder uns wie Schafe abschlachten zu lassen.« Als ob die Demo der Vorstadtjugend etwas mit dem so genannten Heiligen Krieg zu tun gehabt hätte.

Sehr viel differenzierter geht es in den Kommentaren von Le Monde zu, die mit dem rechten Figaro um den Platz des auflagenstärksten Blattes rivalisiert. In ihrer ersten Ausgabe nach den Attentaten überschrieb der Chefredakteur Jean-Marie Colombani seinen Leitartikel: »Wir sind alle Amerikaner.« Der Inhalt der außergewöhnlich langen Kolumne ist jedoch weit weniger plakativ. Der Autor lehnt die These ab, die Attentate seien Teil eines Krieges »des Südens gegen den Norden« oder der Rache der Unterdrückten, da es ihren Urhebern keineswegs um die Bekämpfung der Armut gehe. Er erinnert daran, dass bin Laden während des Kampfes gegen die sowjetische Präsenz in Afghanistan von der US-amerikanischen CIA ausgebildet wurde und dass es »seit den dreißiger Jahren und in verschärfter Form seit den fünfziger Jahren« eine strategische Allianz der USA mit dem islamischen Fundamentalismus, insbesondere mit Saudi-Arabien gegeben habe, die jetzt in Frage zu stellen sei.

Colombani fordert zugleich die USA auf, den mit dem Amtsantritt Bushs vermuteten »Isolationismus« zu beenden, weist jedoch auf die »politische Logik« der Attentäter hin, die eine Konfrontation zwischen Ungläubigen und der islamischen Welt herbeiführen wollten. Daher gelte es, alle Aktionen zu unterlassen, die genau in diese Logik passen und die die Bevölkerungen, in deren Namen die Fanatiker bisher nicht sprechen könnten, mit hineinziehen.

Ähnlich argumentieren die meisten Leitartikler und Kommentatoren von Le Monde, sie setzen sich für differenzierte Positionen ein. Ein nicht gezeichneter Leitartikel vom 15. September fordert etwa, eine »manichäische Sichtweise zurückzuweisen«, und warnt davor, die notwendigen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus als »Kampf des Guten gegen das Böse« oder gar des Abendlands gegen die islamische Welt zu interpretieren. Die wiederholten Luftschläge der USA gegen den Irak während der letzten zehn Jahre stellten ein abschreckendes Beispiel dar, kein Problem sei damit gelöst worden, eher seien bestehende Konflikte noch verschärft worden. Zugleich hofft der Autor, dass die USA stärker mit anderen Ländern »kooperieren und diskutieren«, was den Wunsch nach einer stärkeren Rolle Frankreichs oder Europas wohl implizit einschließt.

Ende voriger Woche meldeten sich in einer Le Monde-Beilage erstmals auch zwei Angehörige des intellektuellen Jet-Sets zu Wort, zwei Männer, die in der Diskussion um den Jugoslawien-Krieg oder über internationale Großereignisse bereits lautstark aufgetreten waren. André Glucksmann und der Filmemacher Romain Goupil, zum Antitotalitarismus bekehrte ehemalige Linke, demonstrierten aber vor allem, dass sie in der aktuellen Situation nichts Sinnvolles zu sagen haben.

Ihr Text »Die nihilistische Gleichung« ist vor allem gespickt mit Referenzen vorgeblicher »Vorahnungen der Katastrophe« in Literatur und Kunst, es geht von Proust über Wagners »Götterdämmerrung« bis zu de Sade und Dostojewski. Dem schlechten Argument, die Terroranschläge stellten die Rache der enterbten Dritten Welt gegen die Arroganz der Weltmacht USA dar, begegnen sie mit dem noch schlechteren, dies sei doch unverständlich, denn »das erste Attentat gegen das World Trade Center, 1993, erfolgte unter dem Demokraten Clinton«. Was wohl implizit heißen soll, unter den Demokraten seien die USA nicht so imperialistisch gewesen. Hätte Glucksmann ausnahmsweise nichts gesagt, hätte man ihn vielleicht weiterhin für einen Philosophen halten können.

Die kleinste der großen französischen Tageszeitungen, die KP-nahe L'Humanité, verurteilte einerseits die Terroranschläge und zugleich den islamischen Fundamentalismus als Gesellschaftsprojekt. Die Zeitung titelte nach den Attentaten schlicht: »Furchtbar«. Andererseits warnte sie von Anfang an vor den Gefahren einer militärischen Eskalation und eines Rachefeldzugs, vor dem Risiko »jeder militärischen Initiative, die wie ein Krieg des Nordens gegen den Süden aussehen könnte, wie ein Krieg der Reichen gegen die Armen, des Westens gegen den Islam«. Die Leitartikel versuchen den Blick auf die Ungleichheiten und Konflikte in der Welt zu lenken, die auf die Weltmacht, die sich vom Elend der Welt nicht betroffen wähnte, in schrecklicher Weise zurückgefallen seien.

Am 13. September hatte KP-Vorsitzende Robert Hue seine Solidarität »mit allen Bürgern und Bürgerinnen dieses großen Landes« erklärt, um hinzuzufügen: »und mit dem Führungspersonal, das sie sich selbst gegeben haben«. Eine Solidarität, die nicht mehr zwischen zivilen Opfern einerseits und der Bush-Administration andererseits unterscheidet, ging großen Teilen des Publikums dann doch zu weit. Die Schweigeminute auf dem Pressefest der Humanité wurde schon nach wenigen Sekunden von Pfeifkonzerten unterbrochen.