Wie europäisch ist der Balkan?

Europa ist Kroatien!

Die Wiege des modernen Europas liegt in Kroatien. Deshalb hat Kroatien nichts mit dem Balkan zu tun.

Kroatinnen und Kroaten in der Heimat und im Ausland, Bürgerinnen und Bürger Kroatiens! Das kroatische Volk hat erstaunliche Stärke und Reife bewiesen, wodurch es selbst, aus eigener Kraft - und mit Gottes Hilfe - seine Stellung sowohl in der internationalen Ordnung als auch jetzt im Europarat erkämpft hat. Dies war deshalb möglich, weil in dem kroatischen Nationalwesen das Bewusstsein über die dauerhaften Werte seines politischen und kulturellen Erbes, und das schon zu Zeiten seiner mittelalterlichen Herrscher, immer wach gewesen war - was die Beiträge seiner geistigen Größen zur Zivilisation der Menschheit beweisen.

Dieses Bewusstsein hat in der Vergangenheit - und auch gegenwärtig - all jene zerrütteten und kopflosen Zusammenschlüsse, die gemeinsam mit den tragischen äußeren Einflüssen nicht nur die staatliche, sondern auch die nationale Existenz gefährdet haben, überwältigt.

Das heutige Kroatien konnten wir erreichen dank unseres Überlebenskampfes, der Leben und Tod bedeutete, gegen den venezianischen, osmanischen, germanischen, ungarischen, gegen den nazifaschistischen und den großserbischen Imperialismus. Dabei mussten wir auch eigene tödliche Schwächen überwinden: erblindende Erschöpfungen und selbstzerstörerische Täuschungen.

Die historischen Erfolge, die wir bis heute im Hinblick auf die Verwirklichung und die internationale Stellung des selbständigen und unabhängigen, demokratischen und souveränen kroatischen Staates erzielt haben, sind Resultate einer durchdachten, vernünftigen und entschlossenen Politik in der Verfolgung und in der Verteidigung von national-staatlichen Zielen und Interessen. Im Ausnahmefall - nämlich im Kriegszustand - haben wir auf die demokratischste Weise eine stabile verfassungsrechtliche demokratische Ordnung geschaffen, die mit Erfolg allen inneren und äußeren Destabilisierungsversuchen widersteht.

Aus dem Nichts haben wir die kroatischen Streitkräfte aufgebaut, die zuerst gemeinsam mit dem unbewaffneten Volk die kroatische Freiheit verteidigt haben und dann, gerüstet, dem jugo-kommunistischen und groß-serbischen Aggressor eine solch schwere Niederlage zufügten, dass Kroatien zu einem erstrangigen Faktor in diesem Teil Europas wurde.

Aufgrund seiner geopolitischen Lage und seiner 14 Jahrhunderte langen Vergangenheit gehört Kroatien der mitteleuropäischen und mediterranen Kultur- und Zivilisationssphäre an. Die politische Verbindung mit dem Balkan ist nur eine kurze Episode von insgesamt sieben Jahrzehnten in der kroatischen Geschichte, in der die zivilisatorischen Gegensätze nicht gemindert, sondern im Gegenteil nur noch vergrößert wurden.

Kroatien kann daher derartige Prinzipien der Integration nicht annehmen, da sie im Grunde eine Entwertung all dessen bedeuten würden, was es gegen einen hohen Preis und mit vielen Opfern auf dem Wege zur Erlangung seiner Freiheit, Demokratie und Souveränität erreicht hat.

Auf diesem Territorium zerfiel das Römische Imperium in ein west-römisches und ost-byzantinisches Reich; die christliche Kirche spaltete sich in eine west-katholische und eine ost-orthodoxe; Jugoslawien, willens der Versailler Mächte geschaffen, konnte sich weder unter der monarchistisch-faschistischen noch unter der kommunistischen Diktatur behaupten, auch all seine Demokratisierungsversuche scheiterten letztlich.

Kroatien hat bereits bewiesen, dass es ein konstruktiver Partner und eine sichere Stütze in dem Friedensaufbau und in der neuen, stabilen Ordnung in diesem Teil der Welt sein kann und will. Bauen wir auf den Grundsteinen der großartigen Erfolge und Siege, die wir durch Belebung, Verteidigung und Schaffung des selbständigen und unabhängigen, freien und demokratischen, international anerkannten und souveränen kroatischen Staates erreicht haben, auf! Den Fortschritt und die wirtschaftlich-kulturelle Blüte unserer kroatischen Heimat, im Interesse all ihrer Bürger und auf den Grundlagen der sozialen Gerechtigkeit, können und müssen wir sicherstellen durch die Reife unserer demokratischen verfassungsrechtlichen Ordnung, durch die Stabilität und Vitalität unseres wirtschaftlichen Systems!

Rede des damaligen Präsidenten Kroatiens Franjo Tudjman zur Aufnahme des Landes in den Europarat am 6. November 1996; redaktionell gekürzt.