Proteste gegen die Globalisierung

Fürchtet euch!

Die harten Reaktionen auf die Massenrevolte von Genua zeigen, dass den Betreibern der Mehrwertmaschine der Schreck in die Glieder gefahren ist. Dabei haben sie selbst die Angst zum Mittel ihrer Herrschaft gemacht.

Die spektakuläre Schlacht um den G 8-Gipfel in Genua ist vorbei. Nichts ist mehr wie zuvor. Der Showdown zwischen der so genannten Antiglobalisierungsbewegung und den Kräften der Sicherheit und Ordnung war lange vorbereitet worden, und der heftige Zusammenstoß zwischen beiden Seiten hat die latente gesellschaftliche Gewalt zur offenen Explosion gebracht. Doch der weiße Rauch des Tränengases und der schwarze Rauch der brennenden Autos und Banken scheinen die Sicht auf den wirklichen Zustand der Welt zu vernebeln. Es gibt kaum Anzeichen dafür, dass sich nach den Ereignissen in Genua ein klareres Bewusstsein von den Ursachen des weltweiten Desasters und den Möglichkeiten seiner Aufhebung entwickeln wird.

Die auf dem Gipfel versammelten Regierungschefs hatten die Absicht, sich als die kompetenten Verwalter der globalen Ökonomie zu präsentieren, deren katastrophischen Gang sie allein zu kontrollieren und in geordnete Bahnen zu lenken imstande seien. Silvio Berlusconi wollte den Gipfel zudem nutzen, um seiner Regierungskoalition aus der ultraliberalen Forza Italia, der rassistischen Lega Nord und der neofaschistischen Alleanza Nazionale internationale Anerkennung zu verschaffen. Zugleich ging es ihm getreu der alten Devise »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« darum, seine radikalen Gegner zu demontieren und der parlamentarischen Opposition ihre Grenzen aufzuzeigen.

In Göteborg war erstmals seit Jahren wieder auf europäische Demonstranten scharf geschossen worden, und die offizielle Darstellung, der Polizist, der einem Demonstranten in den Rücken schoss, habe sich in einer Notwehrsituation befunden, wurde allseits akzeptiert.

Nun richtete sich die mediale Aufmerksamkeit auf den so genannten Schwarzen Block, vor dessen unkontrollierbaren Gewaltausbrüchen ausschließlich die Polizei die versammelten Staatschefs, aber auch die »friedlichen« Demonstranten zu schützen in der Lage sei. Der Schwarze Block wurde das spektakuläre Gegenstück zu den friedlichen, moraltriefenden, angepassten Globalisierungsgegnern, die sich, »weil auch ihnen keine Alternative zum Kapitalismus einfällt, (...) nur nach einem menschlicheren Kapitalismus« sehnen und die »Seelenpein und die Rituale des schlechten Gewissens im Herzen der einstigen Kolonialmächte« zelebrieren (Spiegel).

Was in Genua geschah, ging darüber hinaus. Seit der staatlichen Bombe auf der Piazza Fontana in Mailand 1969, die 16 Menschenleben forderte, gilt Italien als Laboratorium der Konterrevolution. Dort wurden als Antwort auf den »schleichenden Mai«, der in Italien bis 1977 andauerte, die Instrumente zur Provokation, Infiltration, Manipulation höchst professionell entwickelt.

Man konnte bereits vor dem G 8-Gipfel sehen, wie der Polizeiapparat u.a. mittels einer Briefbombe scharf gemacht wurde. Man konnte sehen, wie Berlusconi ohne Pause vor einem neuen Terrorismus warnte und seinen »Antikommunismus ohne Kommunisten« praktizierte. Schon vor dem Gipfel war klar, dass es zu ernsten Zusammenstößen kommen würde. Und so war die Erschießung von Carlo Giuliani durch die italienische Polizei das Ereignis, das am wenigsten unerwartet kam.

Der Versuch der Tute Bianche, die Eskalation zu begrenzen, indem auf ein offensives Vorgehen gegen die Polizei verzichtet wurde, hat nichts gebracht. Das lag keineswegs an dem zum medialen Monster aufgeblasenen Black Block, sondern daran, dass es das politische Ziel der Tute Bianche und des Genua Social Forum war, in die zum Sperrgebiet erklärte Rote Zone einzudringen. Die Polizei hatte die Aufgabe, genau das zu verhindern; und sie tat es mit einem Übermaß an Einsatzfreude, indem sie riesige Demonstrationen mit Tränengas einnebelte und auseinander knüppelte.

Was den Einsatz von polizeilichen, geheimdienstlichen und faschistischen Provokateuren betrifft, so haben diese ein präzise umrissenes Aufgabenfeld: die Revolte in für die Herrschaft dienliche Bahnen zu lenken, also Straßenkämpfe an Stellen oder zu Zeitpunkten auszulösen, die den Ordnungskräften passen, oder die Revolte auf andere Ziele umzulenken, um sie in den Augen der Zuschauer zu diskreditieren. All das ist Augenzeugen zufolge in Genua vorgefallen, es reicht aber keineswegs, das Ausmaß der Zusammenstöße zu erklären. Hinter den spektakulären Straßenkämpfen verschwand jeder Gedanke an weitere Kampfformen, wie etwa der von den radikalen Basisgewerkschaften, den Comitati di Base, propagierte Generalstreik.

Ein weiteres Element kommt hinzu. Der modernisierte Staat kann die sozialen Sicherungssysteme, mit denen früher die Unterwerfung erkauft wurde, nicht mehr bezahlen, wenn er auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben will; und er will sie auch nicht mehr bezahlen, weil er nicht mehr von der proletarischen Subversion dazu gezwungen wird. Insofern schrumpft er langsam, aber sicher auf seine Gewaltfunktionen - nach innen wie nach außen - zusammen.

Loyalität sucht er sich anders zu sichern. Die Angst wird als Herrschaftsmittel etabliert. Die Herrschaft verspricht keine glänzende Zukunft mehr, sie sagt einfach: Es gibt keine Alternative. Sie verweist auf das grauenhafte Schicksal der als unproduktiv Ausgesonderten, um die Arbeitsmoral aufrechtzuerhalten, und wenn das nicht ausreicht, wird an denen, die zu Feinden erklärt werden, vorgeführt, was allen blühen kann, die revoltieren.

Darin liegt der tiefere Sinn der so genannten chilenischen Nacht in der Schule Diaz, der Misshandlungen vieler festgenommener Aktivisten auf den Polizeirevieren und in den Gefängnissen. Keiner der beteiligten Polizisten konnte davon ausgehen, dass diese Misshandlungen dauerhaft verheimlicht weden können. Alle waren sich aber sicher, dass sie »von oben gedeckt« werden würden. Nach den Aussagen Berlusconis, seines Innenministers Claudio Scajola und des Vizepräsidenten Gianfranco Fini zu urteilen, könnten sie damit Recht behalten.

Das hätte beträchtliche Konsequenzen: Was nicht bestraft wird, ist de facto erlaubt. Und Maßnahmen, die in einer vom Staat als Ausnahmezustand definierten Situation angewandt wurden, neigen dazu, sich in normale Maßnahmen zu verwandeln, die bei jeder passenden Gelegenheit eingesetzt werden.

Der Berliner Professor Bodo Zeuner, dessen Tochter in Genua italienischen Polizisten in die Hände fiel, hat in der vergangenen Woche davor gewarnt, dass es von den Miss-handlungen in den italienischen Polizeistationen und Gefängnissen nur ein kleiner Schritt zu den Folterkellern der SA sei. Er wolle keine unangemessenen historischen Parallelen ziehen, aber die Gefahr einer Faschisierung sei evident.

Die Integration der Neofaschisten in die italienische Regierung und die im italienischen Polizeiapparat wachsenden Sympathien für Mussolini scheinen für seine These zu sprechen. Aber wahrscheinlicher ist es, dass sich eine neue Form autoritärer Herrschaft etabliert, die mit der alten faschistischen wenig gemein hat. Berlusconi war Mitglied der Loge P2, jener italienischen Parallelregierung, die in den siebziger Jahren hohe Politiker, Polizisten, Geheimdienstler, Kirchenmänner und Unternehmer versammelte. Diese Parallelstruktur war die außerinstitutionelle, in der Verfassung nicht vorgesehene und den Ausnahmezustand exekutierende Antwort auf die antiinstitutionelle Bewegung. Heute stellen ihre Protagonisten die Regierung.

Aber die Strategie der Angst muss nicht erfolgreich sein. Am Dienstag vergangener Woche gingen 100 000 bis 200 000 Menschen in den italienischen Städten aus Protest gegen die Polizeibrutalität auf die Straße. Und nicht nur in Italien, sondern in der ganzen Welt wurde demonstriert. Die so genannte Antiglobalisierungsbewegung kann in kürzester Zeit im internationalen Maßstab agieren.

Bernard Kouchner, der vom Vorsitzenden einer NGO zum Leiter der Unmik-Truppe im Kosovo, dann zum französischen Gesundheitsminister aufgestiegen ist, hat daher bereits von einem »globalen Mai 68« gesprochen. Aber wo hat man einen wilden Generalstreik mit Fabrikbesetzungen gesehen, wie er den französischen Mai prägte? Wo hat sich die Kritik des Alltagslebens und die Vorstellung einer Gesellschaft jenseits von Ware und Staat manifestiert? Wo hat es Diskussionen gegeben, die das alte antikapitalistische Programm der Räterevolution im Hinblick auf die jüngste - in ihrer kapitalistischen Form schreckenerregende, in ihren Möglichkeiten faszinierende - Entwicklung der Produktivkräfte aktualisierten?

Das Stichwort vom »globalen Mai« soll den Parvenus von 68, die sich auf den Staatssesseln niedergelassen haben und sich als die zivilisierte Seite der globalen Barbarei präsentieren wollen, neue Legitimation verschaffen und ihnen zugleich die ideologische Hoheit über die Bewegung sichern. Jede Kritik soll präventiv auf das »Programm des aufgeklärten Pragmatismus« (Reinhard Mohr) beschränkt werden.

Die harten polizeilichen und medialen Reaktionen auf die Revolte von Genua haben aber deutlich gemacht, dass dem Personal, das die Mehrwertmaschine am Laufen halten soll, der Schreck in die Glieder gefahren ist. Es gilt weiter, was bereits Brecht feststellte: Man hat so viel Gewalt, wie zur Aufrechterhaltung barbarischer Zustände erforderlich ist.