35-Stunden-Woche in Frankreich

Neoliberale Sozialpartnerschaft

Die Diskussion um eine der zentralen Reformen der sozialdemokratischen Regierung Frankreichs ist wieder aufgeflammt. Jüngst erschienen eine Reihe erster Bilanzen zur Praxis der RTT (Verkürzung der Arbeitszeit), die Anfang vergangenen Jahres eingeführt wurde. Die beiden Aubry-Gesetze vom Juni 1998 und Dezember 1999 hatten den gesetzlichen Rahmen für die 35-Stunden-Woche abgesteckt. Kern der Reform ist ein sozialpartnerschaftlicher Deal: die Verkürzung der wöchentlichen oder jährlichen Arbeitszeit im Tausch gegen eine zunehmende Flexibilisierung der Arbeitsrhythmen und der Verfügbarkeit der Arbeitskraft (Jungle World, 04/00).

Der Auftrag des Gesetzgebers an die »Sozialpartner« besteht darin, sich von Betrieb zu Betrieb auf kleine Kompromisse zu einigen, die zwischen der Arbeitgeberseite und einzelnen Gewerkschaften konsensfähig sind. Zum wichtigsten Ansprechpartner der Kapitalseite geriet dabei der sozialliberale modernistische Gewerkschaftsbund CFDT.

Die im Mai und Juni diesen Jahres veröffentlichten Studien ermöglichen, nun eine vorläufige und ambivalente Bilanz der Reform aus der Sicht der Beschäftigten zu ziehen. Die Mehrheit der Beschäftigten erklärt, mit der RTT insgesamt zufrieden zu sein. Ein bedeutender Teil der Beschäftigten meint aber, dass sich ihre konkreten Arbeitsbedingungen nicht verbessert, sondern sogar verschlechtert haben.

Warum gibt die Mehrheit der Beschäftigten trotzdem an, mit der RTT zufrieden zu sein? Wohl deswegen, weil sie es ermöglicht, mit einem halben Tag in der Woche oder ein paar Tagen zusätzlichen Urlaubs im Jahr aus dem Arbeitsleben zu entfliehen. Aber das ebenso notwendige Ziel einer kollektiven Verbesserung innerhalb der Arbeitswelt scheint dabei immer mehr aus dem Blickfeld zu geraten. So leistet das Gesetz dem Trend zur gesellschaftlichen Individualisierung Vorschub.

Am 15. Mai fasste France Soir eine neu erschienene Studie zusammen: »Je nachdem, ob man Führungskraft oder Arbeiter ist, fallen die Auswirkungen der 35-Stunden-Woche unterschiedlich aus. Und es sind vor allem die Führungskräfte, die sich mit der RTT besonders zufrieden zeigen«. Bei den Angestellten oder Arbeitern sieht es anders aus. So zeigt eine Untersuchung der CFDT im Bausektor, »dass sich die Bedingungen im Arbeitsleben verschlechtern. (...) Die Beschäftigten des Sektors legen einen markanten Pessimismus an den Tag, was die Entwicklung der Arbeitsbedingungen, des Rhythmus' und der Intensivität der Arbeit betrifft, aber auch die Entwicklung der Löhne.«

62 Prozent der Beschäftigten in mittleren und größeren Betrieben, aber erst acht Prozent der Lohnabhängigen in Unternehmen mit weniger als 20 Beschäftigten sind bisher in den Genuss der RTT gekommen. Für die zweite Gruppe gilt die Reform erst ab dem kommenden ersten Januar als gesetzliche Norm. Wirtschaftsminister Laurent Fabius, der sich um ein Profil als neoliberaler Flügelmann im Kabinett bemüht, setzt sich derzeit für eine Milderung der gesetzlichen Anforderungen an die kleinen und mittelständigen Betriebe ein, bspw. durch die Erhöhung der Zahl gesetzlich zulässiger Überstunden pro Jahr.