Videoüberwachung in Stuttgart

Gesocks im Schatten

In Stuttgart soll die Videoüberwachung öffentlicher Plätze eingeführt werden. Argumentiert wird dabei mit rassistischen Klischees.

Rudolf Scheithauer hat ein großes Ziel: Die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart »soll bundesweit die sicherste und lebenswerteste Stadt werden«. Der stellvertretende Leiter des Stuttgarter Ordnungsamtes hat auch eine Vorstellung davon, wie er dieses Ziel erreichen könnte: Die Videoüberwachung muss her.

An so genannten Kriminalitätsbrennpunkten wie dem Stuttgarter Rotebühlplatz sei man mit einer Situation konfrontiert, so Scheithauer, »wo das ganze Gesocks zusammenkommt und im Grunde die Straße beherrscht«. Würden solche vermeintlichen Schandflecken der Stadt erst einmal ständig beobachtet, bekäme man auch den übrigen öffentlichen Raum unter Kontrolle.

An Orten, wo die Kameras nicht zum Einsatz kommen, verlässt sich Scheithauer auf seine Mitbürger: »In einem gehobenen Wohngebiet wie dem Killesberg sehen sie einen Neger schon von 500 Meter Entfernung, weil dort die soziale Kontrolle noch viel größer ist. Das sind Fremdkörper, die trauen sich dort gar nicht hin.«

Konsequenterweise gibt denn auch die Stadt in Zusammenarbeit mit dem Förderverein Sicheres und Sauberes Stuttgart ein Faltblatt heraus, das »Tipps für die Sicherheit« enthält, falls »fremde Leute« im Wohngebiet gesichtet werden: »Unbekannte warten scheinbar grundlos auf der Straße, im Hausflur oder im geparkten Auto. Vielleicht steht da einer Schmiere.«

Auch wenn sich nicht alle Befürworter der Videoüberwachung in ihrer Argumentation fremdenfeindlicher Stereotypen bedienen, sind sie sich in der Sache einig. Die Überwachung durch Kameras verdränge die Täter, meint Polizeisprecher Hermann Karpf, und diese träfen dann »auf sichtbare Polizeipräsenz, wo die Tatgelegenheiten von den räumlichen Gegebenheiten her an sich nicht vorhanden sind«.

Diesen Gedanken konsequent zu Ende gedacht hat Stefan Barg, der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende im Stuttgarter Stadtrat. Er forderte Mitte Februar in der Stuttgarter Zeitung einen mobilen Einsatz der Kameras, »damit sich da nichts im Schatten abspielt«. Der ordnungspolitische Diskurs hat zur Folge, dass alles, was für die Ordnungsmacht nicht sichtbar ist, von vornherein unter Verdacht gestellt wird. Dieser wahnhaften Logik entsprechend machen sich, ähnlich wie in der Debatte um die Einrichtung so genannter Gendateien, bereits jene Personen verdächtig, die derartigen Maßnahmen kritisch gegenüberstehen.

Der baden-württembergische Datenschutzbeauftragte, Werner Schneider, warnt davor, dass die Kameras »einen latenten Anpassungsdruck erzeugen. Dies hemmt den Einzelnen in seiner freien Entfaltung und beeinträchtigt das gesellschaftliche Klima.« Er will deshalb die polizeiliche Auslegung des juristisch unscharf definierten Terminus »Kriminalitätsbrennpunkt« hinsichtlich der Anzahl und Schwere der Straftaten einer eingehenden Prüfung unterziehen.

Von solchen Spitzfindigkeiten unbeeindruckt, gab der Stuttgarter Gemeinderat dem Projekt Videoüberwachung bereits Ende April grünes Licht. Vorausgegangen war eine Novellierung des baden-württembergischen Polizeigesetzes durch den Stuttgarter Landtag im vergangenen Dezember, die die nötige Rechtsgrundlage für die Kommunen im Ländle schuf, um mit der Installation der elektronischen Späher beginnen zu können.

Stuttgart will nun im Rahmen des landesweiten Projekts »Kameraüberwachung im öffentlichen Raum« zur Modellstadt avancieren. Ab Anfang des nächsten Jahres soll der Rotebühlplatz - ein Verkehrsknotenpunkt, in den die Stuttgarter Einkaufsmeile mündet - rund um die Uhr überwacht werden. Fünf Kameras werden das Geschehen sowohl auf dem Platz als auch im darunter liegenden Zugang zur Straßenbahn beobachten. Polizeisprecher Hermann Karpf vertritt die Ansicht, dies sei »immer noch einer der am stärksten kriminalitätsbelasteten Punkte, auch wenn dort wie allgemein in Stuttgart die Kriminalstatistik rückläufig ist«. Tatsächlich ging die Kriminalität in Stuttgart im vergangenen Jahr um über fünf Prozent zurück.

Davon völlig unbeeindruckt, will die Stadt die Videoüberwachung einführen. Sie hat neben Räubern und Taschendieben vor allem die örtliche Drogenszene im Visier. Schon jetzt sind täglich 60 bis 100 Polizeibeamte im Einsatz, um vermeintliche optische Beeinträchtigungen der Konsumatmosphäre zu bekämpfen und Junkies und Dealer auf Trab zu halten.

Nichts ist der Kommune zu kostspielig, wenn es darum geht, »das Sicherheitsgefühl der Bürger wiederherzustellen«. Allein die Anschaffung und Installation der fünf Kameras wird von der Stadt mit 376 000 Mark veranschlagt. Hinzu kommt der mehrere hunderttausend Mark teure Umbau des Lagezentrums der Polizei, wo alles mitgeschnitten wird, was im Schwenkbereich der Kameras geschieht. Lediglich die Grünen hatten vor der Entscheidung im Gemeinderat angekündigt, gegen das Vorhaben zu stimmen, »aber nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil das zu teuer ist«.

Da wird es auch ganz in ihrem Sinne sein, dass der Verein Sicheres und Sauberes Stuttgart als Anreiz zu mehr bürgerschaftlichem Engagement im kommenden Herbst erstmals einen »Sicherheitspreis« ausloben will, eine Auszeichnung für Bürger, »die in einer kritischen Situation Zivilcourage bewiesen haben«. Denn, so der Vereinsvorstand Robert Mehl, »nur mit Hilfe der Bevölkerung können wir mehr Sicherheit und Sauberkeit in ein noch sympathischeres Stuttgart bringen«.

Die Pläne für eine Erweiterung der Überwachung im Falle eines erfolgreichen Versuchsjahres liegen bereits vor. Stuttgarts Konsummeile, die Königsstraße, würde dann ebenfalls ständig überwacht. Spätestens dann könnte es auch für den Einzelhandel interessant werden, an die Videobänder zu kommen: Welche Auslage wirkt am besten? Wo bleiben viele Menschen stehen? Die Gefahr einer kommerziellen Zweitverwertung der aufgezeichneten Bilder, etwa zur Erstellung von Konsumentenprofilen, schließt Datenschützer Werner Schneider noch aus. Das gäbe »eine öffentliche Diskussion, die sich auch die Polizei nicht wünschen kann«.

Also geht es zunächst um den Ausbau der Videopräsenz zur Kriminalitätsprävention, und zwar nicht nur in Stuttgart, sondern auch in anderen baden-württembergischen Städten. Während in Heilbronn über derartige Vorschläge bisher nur nachgedacht wird, macht man in Mannheim bereits Nägel mit Köpfen. Nach dem Abschluss einer Testphase wird dort in den nächsten Wochen der reguläre Betrieb aufgenommen.