Revolte in Algerien

Appell an den Mob

Das Datum der nächsten großen Mobilisierung der algerischen Protestbewegung steht bereits fest. Am 5. Juli, dem Jahrestag der 1962 erkämpften Unabhängigkeit des Landes von Frankreich, soll erneut eine Demonstration in Algier stattfinden. Dies beschloss das Koordinationskomitee des Bezirks von Tizi-Ouzou am Donnerstag der vergangenen Woche. Zwar waren alle weiteren Demonstrationen in der Hauptstadt vor einer Woche »jusqu'à nouvel ordre« - bis auf weiteres - untersagt worden. Die Organisatoren erklärten aber, dem Verbot trotzen zu wollen.

Für den Montag dieser Woche wurde zudem ein Protestmarsch in Tizi-Ouzou, der Regionalhauptstadt des ländlichen Teils der Kabylei, angekündigt. Auch dieses Datum ist symbolträchtig. Am 25. Juni 1998 war der beliebte kabylische Sänger Lounès Matoub ermordet worden. Damals hatte sich eine Abspaltung der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) zu der Tat bekannt. Familienmitglieder des Getöteten beharren aber darauf, es sei durchaus möglich, dass Mitglieder einer regierungsnahen Dorfschützermiliz die Täter waren.

Die Kabylei bleibt das Zentrum der Unruhen, auch wenn die Revolte mittlerweile etwa 20 größere Städte in arabischsprachigen Regionen erfasst hat, insbesondere im Osten und Nordosten des Landes. Nur in der Kabylei aber existiert bisher eine organisierte Gegenmacht von Basiskomitees. Die Dorf-, Stadtteil- und Bezirkskoordinationen beanspruchen, anstelle der verhassten Staatsmacht über die Geschicke der EinwohnerInnen zu entscheiden. In anderen Landesteilen hingegen kommt es immer wieder zu aufflammenden Riots, allerdings auf breiter Front.

VertreterInnen der Bewegung betonen, dass die Revolte keine »ethnischen« oder regionalistischen Forderungen stellt, sondern sich gegen die im ganzen Land herrschende soziale Misere und die repressive Staatsmacht richtet. So erklärte Malika Matoub, die Schwester des ermordeten Sängers, am vorigen Freitag in der französischen Tageszeitung Libération: »Ich möchte nicht, dass dieses Gedenkdatum benutzt wird, um die Zuneigung der Jugend für meinen Bruder zu manipulieren und ihn als Anhänger einer Autonomie (der Kabylei) darzustellen. (...) Ich werde nicht zulassen, dass man das Andenken an meinen Bruder instrumentalisiert, um die Algerier zu spalten und einer Forderung Auftrieb zu geben, die auf dem gesellschaftlichen Terrain nicht erhoben wird. Die einzige Unabhängigkeit, die wir einfordern, ist jene Algeriens, die seit 1962 von den Militärs konfisziert wird.«

Die geringere Intensität und Ausbreitung der Bewegung in den arabischsprachigen Landesteilen ist vor allem eine Folge der regional unterschiedlichen Entwicklung in den neunziger Jahren. In der Kabylei hatten die Islamisten nie wirklich Fuß fassen können, in den arabischsprachigen Regionen aber wurde die politische Eigeninitiative der Bevölkerung während der Jahre des Bürgerkriegs zwischen der reaktionären Revolte des Islamismus und dem Staatsterror zerrieben. In diesen Gebieten ist eine abwartende Haltung weit verbreitet.

Die Mehrheit der arabischsprachigen AlgerierInnen steht dem kabylischen Aufstand nicht von vornherein feindselig gegenüber. Plünderungen und Schlägereien - teils von Provokateuren verursacht, teils Ausdruck spontaner Wut - könnten die Stimmung jedoch umkippen lassen.

Zahlreiche übereinstimmende Berichte deuten darauf hin, dass am Rande der Demonstration in Algier am 14. Juni (Jungle World, 21/01) Gruppen von Hooligans des hauptstädtischen Fussballclubs MCA, von chauvinistischen und anti-kabylischen Parolen aufgeheizt, Seite an Seite mit der Polizei vorgingen. Die Mehrzahl der an jenem Tag Getöteten, mittlerweile sind mindestens sechs Demonstranten gestorben, geht auf das Konto ihrer Lynchaktionen. Offenbar wollen Teile des Regimes an einen chauvinistischen Mob appellieren, um ihre Macht zu erhalten.