Wirtschaftskrise in der Türkei

Am Abgrund

Einen Weg aus der sozialen und ökonomischen Misere kann er nicht weisen, aber den Häftlingen im Hungerstreik zeigt der türkische Staat tödliche Härte.

Die Lage ist ernst. Und das will in der krisenerprobten Türkei etwas heißen. Trotz eines in mehreren Provinzen erlassenen vierwöchigen Demonstrationsverbots folgten am Wochenende allein in Istanbul über zehntausend Menschen einem Aufruf der Gewerkschaften und forderten zum wiederholten Male den Rücktritt der Regierung.

Die gegenwärtige Krise ist also nicht allein eine ökonomische, sondern ebenso eine politische. Deshalb scheidet im Fall der Türkei aus, was in vergleichbaren Situationen ein gängiges Mittel des Krisenmanagements ist, nämlich die Bildung einer »Regierung der nationalen Einheit«. Denn die amtierende Koalition aus Bülent Ecevits Demokratischer Linkspartei (DSP), der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und der konservativen Mutterlandspartei (Anap) ist bereits eine Allparteienkoalition, die über fast zwei Drittel der Sitze im Parlament verfügt. Aber vorgezogene Neuwahlen böten auch keine Alternative. Aktuelle Umfragen prognostizieren, dass nur die Faschisten und die Islamisten den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde schaffen würden. Eine gespenstische Vorstellung.

Folglich ist bei den nunmehr seit Wochen andauernden landesweiten Protestaktionen immer wieder der Ruf nach dem Eingreifen des Militärs zu hören. Am Wochenende traf sich der Chef des Arbeitgeberverbadens Tüsiad, Muharem Kayhan, mit Vertretern des Generalstabes, um - unbestätigten Medienberichten zufolge - diese zum Eingreifen zu bewegen. Die Generäle halten sich bislang allerdings bedeckt. Denn man fürchtet, eine Intervention könnte zur Isolation führen und die Türkei deshalb von finanziellen Zuwendungen abschneiden, die der Staat gerade jetzt so dringend benötigt.

Außerdem entspricht die Regierung Ecevit den Vorstellungen des Militärs. Die MHP galt bislang als Garantin für eine harte Linie gegenüber der radikalen Opposition, die Anap besorgte die wirtschaftsliberale Transformation sowie die Annäherung an die EU, und Ecevit selbst fungierte als populäre Integrationsfigur. Hier scheitert also eine Konstellation, in der die Militärs Hoffnungen auf einen Ausweg aus der chronischen Instabilität des politischen Systems weckten.

Und dennoch könnten die anhaltenden Proteste die Armee auf den Plan rufen. Nach heftigen Krawallen der Kleinhändler bemerkte der für sein enges Verhältnis zum Geheimdienst bekannte Kolumnist der Tageszeitung Hürriyet, Emin Çölasan, es sei kein Zufall, dass »ausgerechnet jetzt«, da die Türkei sich Hoffnungen auf höhere Tourismuseinnahmen macht, »Provokateure« unterwegs seien, die darauf zielten, das Sommergeschäft zu sabotieren. Daher empfiehlt nicht nur Çölasan ein gemäßigt autoritäres Regime, das für Ruhe auf den Straßen sorgt.

Bei genauerer Betrachtung der Riots werden weitere Vorgänge deutlich, denen die Militärs wohl nicht lange unbeteiligt zuschauen dürften: So traten bei den Protesten in Ankara unter anderen auch Islamisten auf, die unter »Allahü-Ekber«-Rufen das Gebäude einer armeenahen Stiftung mit Steinen bewarfen. Ein deutliches Signal ist auch, dass es ausgerechnet in der zentralanatolischen Provinzhauptstadt Konya ebenfalls zu heftigen militanten Auseinandersetzungen kam. Konya ist die traditionelle Hochburg der Islamisten, die nach Jahren der Defensive wieder eine Chance wittern.

Einen anderen Schauplatz für Krawalle bot letzte Woche die westtürkische Kleinstadt Susurluk. Der Anlass war hier allerdings nicht die Wirtschaftskrise, sondern der Mord an einem elfjährigen Mädchen. Nachdem ihre Leiche im Haus eines Mannes aus dem kurdischen Diyarbakir gefunden worden war, tobte - angeführt von lokalen MHP-Funktionären und zunächst unbehelligt von Polizeikräften - zwei Tage lang ein lynchwütiger Mob auf den Straßen, der »Tod den Kurden!« skandierte und kurdische Geschäfte mit Brandsätzen angriff.

Was die türkischen Medien bei Unterschlagung der rassistischen Dimension dieses Pogroms in der Rubrik Vermischtes behandelten, deutet eine andere denkbare Option an: die Spaltung des Landes. Einzig der Umstand, dass sich der türkische Nationalismus expansionistisch und nicht sezessionistisch orientiert, hat es bislang verhindert, dass sich das im Alltagsbewusstsein verankerte antikurdische Ressentiment in einer wohlstandschauvinistischen Abgrenzung artikuliert. Umgekehrt könnte es unter den Kurden mit oder ohne PKK zu einem erneuten Aufflammen separatistischer Bestrebungen kommen. Die materiellen und ideologischen Voraussetzungen für den Ausbruch ethnisch oder religiös codierter Verteilungskämpfe sind jedenfalls vorhanden.

Wenn nicht bald eine Befriedung erreicht wird, könnte also in absehbarer Zeit das Parlament aufgelöst und durch ein autoritäres Präsidialregime mit Unterstützung der Militärs ersetzt werden. Dem ökonomischen Notstand aber wäre damit nicht abgeholfen.

Anders als beim Militärputsch von 1980 gibt es kein Patentrezept des IWF, das man nur gegen die linke und gewerkschaftliche Opposition durchsetzen müsste. Denn am Beginn der aktuellen Krise stand das klägliche Scheitern des IWF-Paketes vom Dezember vergangenen Jahres, das als Gegenleistung für einen zwölf Milliarden-Dollar-Kredit neben Privatisierungen und der Senkung der Staatsausgaben die Bindung der Landeswährung an den US-Dollar vorgesehen hatte. Nach nur zwei Monaten musste die Regierung wegen eines Streits zwischen dem Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer und dem Ministerpräsidenten Bülent Ecevit über die Korruptionsbekämpfung einen Kurseinbruch an den Börsen hinnehmen und die vom IWF verlangte Maßnahme wieder rückgängig machen.

Das Sanierungsprogramm, das der jüngst zum Wirtschaftminister mit Sonderkompetenzen berufene Kemal Dervis am Wochenende vorstellte, ist eine radikalisierte Version der bekannten erfolglosen Rezepte: noch schnellere und umfangreichere Privatisierungen und noch rigiders Sparen in der vagen Aussicht auf einen neuen Milliardenkredit der Weltbank. Es ist klar, was die hierzulande in den Medien geforderten »wirtschaftlichen Reformen« bedeuten werden. So sind derzeit vier von zehn Türken in der Landwirtschaft tätig und erwirtschaften dabei einen Anteil an der Bruttowertschöpfung von nur 16 Prozent. Werden die umfangreichen Subventionen gestrichen, droht die Verelendung einer großen Bevölkerungsgruppe. Und die Mehrzahl der Staatsbetriebe mag nach kapitalistischen Kriterien als marode gelten, aber das staatliche Engagement bot bislang hunderttausenden Arbeitern zumindest die Existenzsicherung - womit die Mehrheit der Kleinhändler nicht mehr rechnen kann.

Begleitet wird der Todeskampf des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft von einem öffentlich fast völlig ignorierten Sterben in den Gefängnissen. Seit Montag vergangener Woche verging kaum ein Tag, an dem nicht mindestens ein Toter zu vermelden war. Nach Angaben des Menschenrechtsvereins (IHD) befinden sich derzeit etwa 500 Gefangene im so genannten Todesfasten und rund 1 600 weitere im Hungerstreik; für 95 von ihnen ist der 182. Tag bereits erreicht. Nach Angaben des IHD stehen 60 Inhaftierte an der »Schwelle zum Tod«. Hunderte werden, sofern sie überleben, unheilbare physische und psychische Schäden davontragen.

Was jedoch diesen Konflikt betrifft, so hat der Staatsapparat ausnahmsweise eine sehr klare Vorstellung davon, wie er zu lösen sei. »In der Gefängnisfrage gibt es keinen Schritt zurück«, erklärte Justizminister Hikmet Sami Türk letzte Woche nach einem Treffen mit Vertretern der Anwaltskammer. Das heißt im Klartext: Wir lassen die Hungerstreikenden verrecken. Und wenn sie nicht von selbst sterben, wird nachgeholfen. So leitete die Staatsanwaltschaft Istanbul jüngst ein Verfahren gegen 399 vormalige Insassen des Gefängnisses Ümraniye ein. Sie werden unter anderem des »Aufstandes gegen die Gefängnisleitung« angeklagt und haben Haftstrafen zwischen 14 und 23 Jahren zu erwarten - oder gleich die Todesstrafe.