Sitzung des Nationalen Volkskongresses

J.M. Keynes grüßt Zhu Rongji

Um das Wirtschaftswachstum zu sichern, setzt die chinesische Führung auf Deficit Spending.

Normalerweise stellt der Anfang März in Peking stattfindende Nationale Volkskongress der VR China das wichtigste politische Ereignis im Kalenderjahr dar. Wichtige Personalentscheidungen oder maßgebliche Richtungsänderungen prägten die Sitzungen der Vergangenheit und sorgten für hitzige politische Diskussionen in China und im Ausland. Die diesjährige Sitzung des Volkskongresses jedoch ging am Donnerstag vergangener Woche in aller Stille zu Ende. Nur die vom Finanzminister Xiang Huaicheng verkündete Erhöhung des Verteidigungshaushaltes um 17,7 Prozent sorgte in der westlichen Presse für Aufsehen.

Auch die chinesischen Medien, während des Volkskongresses normalerweise im ideologischen Großeinsatz, übten sich in erstaunlicher Zurückhaltung. Selbst die Eröffnungsrede des Ministerpräsidenten Zhu Rongji, wenn auch mit über zwei Stunden außergewöhnlich lang, brachte kaum Neues - insbesondere keine Patentrezepte zur Bewältigung der drängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die im Zuge der sich ausweitenden chinesischen Reformen nun überdeutlich zu Tage treten.

Der neue Fünfjahrplan sieht ein fortgesetztes Wachstum der chinesischen Wirtschaft von durchschnittlich acht Prozent vor, und sogar westliche Ökonomen stellen der chinesischen Regierung für ihre Wirtschaftspolitik gute Noten aus. Aber mehr als fraglich ist es, ob die »weiche Landung« wirklich gelingt. Gerade die als vordringlich eingeschätzte Reform der Staatsbetriebe bleibt weiterhin äußerst schwierig. Premierminister Zhu Rongji erklärte, der Staat werde auch zukünftig die »wichtigen Unternehmen, von denen das Überleben und die Sicherheit der Nation abhängen«, kontrollieren, sich aus den anderen Sektoren aber zurückziehen.

Da sich die meisten Staatsbetriebe als Fässer ohne Boden erwiesen hatten und den Staatshaushalt stark belasteten, beschloss die chinesische Regierung bereits Ende der neunziger Jahre, auch die größeren in Konkurs gehen zu lassen. Die Privatisierung bzw. die Umwandlung großer Betriebe in Aktiengesellschaften allerdings gelingt beileibe nicht immer. Allzu oft machen die zuständigen Parteikader mit den Managern der staatlichen Betriebe gemeinsame Sache und verscherbeln das Tafelsilber auf eigene Rechnung, sodass am Ende nur noch unrentable Objekte zum Verkauf stehen.

Aus dieser Politik ist ein Heer von über 100 Millionen Arbeitslosen entstanden, das inzwischen eine ernsthafte Bedrohung für die Machtbasis der KP darstellt. Hinzu kommen ebenso viele landflüchtige Bauern, die sich von der wirtschaftlichen Rückständigkeit ihrer Herkunftsorte abwenden und ihr Glück in den Städten suchen. Zwar werden viele Arbeitslose bereits vom wachsenden privaten Sektor aufgefangen, seine Kapazität ist jedoch noch immer viel zu gering. Dementsprechend steht die Förderung der Privatwirtschaft und insbesondere der neuen Aktiengesellschaften ganz oben auf Zhus Agenda. Damit riskiert er jedoch einiges, denn eine Ausweitung dieses Sektors versteht der konservative Flügel der Partei als Preisgabe sozialistischer Prinzipien.

Doch sogar in den bislang lukrativen Branchen droht Gefahr. Die im Energie- oder Telekommunikationssektor agierenden Staatsbetriebe könnten mit dem Beitritt der VR China zur Welthandelsorganisation (WTO) unter den Druck ausländischer Konkurrenz geraten. Vor allem diese Betriebe waren es, die Zhu in seiner Rede als Brutstätten der Korruption und der Vetternwirtschaft anprangerte und denen er offenere Strukturen verpassen will. Hier geriet wider Erwarten sogar Li Peng, der als erklärter Reformgegner geltende Vorsitzende des Nationalen Volkskongresses, in die Kritik, dessen Familienangehörige hohe Positionen in der Energiewirtschaft einnehmen.

Der Widerstand gegen die Antikorruptionsmaßnahmen wird also kaum ausbleiben. Sollte es jedoch nicht gelingen, die staatlichen Monopolunternehmen in diesen Bereichen marktfit zu machen, dürften auch sie Probleme bekommen, und selbst die Arbeitsplätze der sich bisher sicher wähnenden urbanen Mittelschicht könnten in Gefahr geraten.

Dann wüchse die Unzufriedenheit, ebenso wie in der politisch weitgehend rechtlos gehaltenen Arbeiterschaft, auch in dieser einflussreichen Gesellschaftsschicht. Anlässlich der Ratifizierung des UN-Sozialpakts vor knapp vier Wochen bekräftigte das chinesische Parlament seine Vorbehalte gegenüber der Gründung unabhängiger Gewerkschaften. Das soziale Netz ist trotz intensiver Bemühungen noch lückenhaft, sodass Arbeitslosigkeit auf einem enger werdenden Arbeitsmarkt sehr schnell den sozialen Abstieg bedeuten kann. Wegen ihrer ungewissen Zukunftsaussichten übt sich die bisher äußerst konsumfreudige städtische Mittelschicht im Verzicht. Gerade die relativ starke Binnennachfrage jedoch war es, die die chinesische Wirtschaft in schweren Zeiten, wie etwa während der Asienkrise, stabilisieren konnte.

Entsprechend setzt der neue Fünfjahrplan auf eine sozial abgefederte, die Nachfrage fördernde Politik. Der Katalog neo-keynesianischer Ideen mit chinesischen Charakteristika umfasst deutliche Gehaltssteigerungen im öffentlichen Sektor, staatliche Infrastrukturmaßnahmen in dreistelliger Milliardenhöhe sowie eine Ausweitung des staatlichen Wohlfahrtsnetzes. Die Infrastrukturmaßnahmen konzentrieren sich vor allem auf die Erschließung des Landesinneren, um der Landflucht mit der industriellen Fortentwicklung der zentralen Provinzen entgegenzuwirken.

Die Aufstockung des Verteidigungsetats wurde im Westen als Signal für einen sich abzeichnenden Konfrontationskurs Chinas mit den USA gesehen. Eher dürfte es sich dabei um die Fortsetzung der neo-keynesianischen Politik handeln. Denn zumindest offiziell sollen mit dem Großteil der Mittel höhere Bezüge der Militärangehörigen und die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen finanziert werden. Da das Militär 1998 auf Geheiß Jiang Zemins sämtliche Beteiligungen an Wirtschaftsunternehmen aufgeben musste, aus denen es bis dahin einen nicht geringen Teil seines Unterhalts bezogen hatte, stellt diese Maßnahme einen wichtigen Schritt dar, um die Integrität der militärischen Strukturen sicherzustellen.

Betrachtet man die augenblickliche Politik der KPCh, so sieht es ganz so aus, als feierten sozialdemokratische Rezepte der siebziger Jahre ihre unverhoffte Wiederkehr. Allerdings besteht die Gefahr, dass das Deficit Spending den Staatshaushalt über Gebühr strapaziert, auch wenn die Rate der jährlichen Verschuldung bei bescheidenen drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt. Fraglich bleibt auf jeden Fall, wie lange die chinesische Regierung diesen Kurs angesichts der zunehmenden Integration in die Weltwirtschaft und in deren Sachzwänge aufrechterhalten kann.

Trotz allem stößt Zhus Politik vorerst auf relativ wenig offenen Widerstand. Nach außen sollte die diesjährige Sitzung des Nationalen Volkskongresses den Eindruck unerschütterlicher Harmonie vermitteln. Tatsächlich aber spricht vieles dafür, dass es sich lediglich um eine Feuerpause innerhalb der KP handelt - vor dem großen Machtkampf, der für den 16. Parteitag im Herbst 2002 erwartet wird. Die maßgeblichen politischen Akteure, die Reformgegner unter Li Peng, die Zentristen um den Präsidenten Jiang Zemin und die Radikalreformer mit Zhu Rongji an ihrer Spitze, spielen angesichts der ungewissen gesellschaftlichen und machtpolitischen Lage in der VR China auf Zeit.