Alternative Lebensformen

1. Mai? Aha!

Es ist jedes Jahr dasselbe: »Barrikaden brennen, Tränengas, Plünderungen, viele Verletzte« (B.Z.). Vielleicht liegt es daran, dass die Traditionalisten auf Seiten der Autonomen und der Polizei keine Neuerungen dulden. Kaum zieht der Frühling ins Land, beginnen sie mit ihren Vorbereitungen für die »Nacht-Schlacht« (B.Z.). Die Randale am 1. Mai als letzter Halt in einer rastlosen Metropole?

Einer hat mit Sicherheit was dagegen: der Chef der Schutzpolizei, Gernot Piestert. Seine Strategie gegen Berliner Traditionen ist das Deeskalationskonzept »Aha«. Das hat nichts mit der gleichnamigen norwegischen Popgruppe zu tun, auch wenn bei der Berliner Polizei inzwischen alles möglich scheint. Immerhin ist sie bereits als Anmelderin eines Open-Air-Konzerts in Prenzlauer Berg aufgetreten. Das war letztes Jahr am 30. April, in der Walpurgisnacht.

Nachdem sich 1994 ein Wasserwerfer bei einem unangemeldeten Straßenfest auf dem Kollwitz-Platz unfreundlich verhalten hatte, gab es ergänzend zum 1. Mai in Kreuzberg ein paar Jahre lang auch den 30. April in Prenzlauer Berg. Mit Steinschlag, Barris und kalten Duschen. Letztes Jahr war es anders, wegen eines Polizeifestes im Mauerpark. Reggae, Rasta und Roll another one, lautete die Devise. Wenn die Polizei so wird wie wir, warum dann gegen sie kämpfen?

Aber Prenzlauer Berg ist nicht Kreuzberg. Die Hochburg der Zecken lässt sich nicht mit karibischen Rhythmen befrieden. Die Polizei kann zwar ein Reggae-Konzert organisieren, aber die revolutionäre Mai-Demo kann sie wohl kaum anmelden. Oder doch? Vielleicht unter dem Motto: »Gegen Gewalt und Anti-Rassismus«. Nein, das geht nicht.

Also hilft nur ein raffiniertes Konzept. »Aha« steht für: »Aufmerksamkeit, Hilfe, Appell«. Aufmerksam beobachten, wo es losgeht, bei der Suche nach Steinen helfen und an die Bullen appellieren: »Haut ab«? Natürlich nicht. Ziel des Konzepts ist es, junge Leute mit Sport und Musik von der Straße zu holen, um den »Gewalttätern die Deckungsmasse zu entziehen«, wie Piestert erläutert. Ergänzend zur Sportmeile in der Bergmannstraße, wo man gegen die grünen Straßenkämpfer Fußball spielen kann, soll es eine Graffiti-Meile im Böcklerpark geben. Vielleicht schreibt Piestert auch wieder Briefe an einzelne Autonome, um sie vor allzu revolutionärem Elan zu bewahren. Eine Info-Hotline mit Tipps für Autofahrer, wie sie die Demo-Routen umfahren können, gehört auf jeden Fall erneut zum Programm.

Trotzdem ist ein friedlicher 1. Mai in Kreuzberg so unwahrscheinlich wie eine Marienerscheinung. Die Demo-Kids erinnern sich vielleicht noch daran, wer letztes Jahr von der Deeskalationslinie abgewichen ist. Etwa am Kottbusser Tor, als Wasserwerfer ohne Vorwarnung in die Menge hineinschossen. Das »Aha«-Konzept der Polizei entpuppt sich alljährlich als Kampagne, die beim Ur-Berliner um Verständnis dafür wirbt, dass mit dem Einbruch der Dunkelheit doch wieder hart zugelangt wird. Darum ist das Ende schon absehbar - wie immer.

Für Kreuzberg ist das gar nicht so schlecht. So gibt es wenigstens jedes Jahr neue Telefonhäuschen und Bushaltestellen. Und vielleicht auch mal einen neuen Supermarkt.