Zwei Jahre Rot-Grün

Tatort Standort

Rot-Grün regiert seit zwei Jahren auch deshalb so erfolgreich, weil viele Lohnabhängige den Standortnationalismus von Schröder und Co. derart verinnerlicht haben, dass sie selbst die verwegensten Verzichtsforderungen freiwillig erfüllen.

Kritiker der rot-grünen Bundesregierung behaupten häufig, Gerhard Schröder und Joseph Fischer hätten die Politik Helmut Kohls einfach fortgesetzt. Dafür spricht einiges: Der Krieg gegen Jugoslawien war die Fortsetzung der unter Kohl begonnenen militärischen Interventionspolitik, die Forcierung der deutsch-französischen Hegemonialpolitik im Rahmen der EU machte ebenfalls da weiter, wo die Konservativen aufhören mussten.

Auch mit der Sicherung eines langfristigen Betriebes der Atomanlagen exekutierte Rot-Grün ein Vorhaben der alten Bundesregierung. Selbstverständlich beibehalten wurde die Praxis, unerwünschte Zuwanderer gewaltsam und nicht selten direkt in die Folterkeller ihrer Herkunftsländer abzuschieben. Solche und einige andere Sachen gehören zur Staatsräson. Diese steht bei Wahlen nicht zur Abstimmung.

Zur Staatsräson Deutschlands gehört seit langem auch der so genannte soziale Frieden. Gemeint ist damit die informelle, aber stabile Übereinkunft zwischen den Vertretern der Lohnarbeiterschaft und des Kapitals, sich gegenseitig nur innerhalb gewisser Grenzen zu schikanieren. Gewalt und ein Übermaß an Erpressung sind ausgeschlossen. Streiks, Aussperrungen, Tarifverhandlungen, Sozial- und Demokratieabbau sowie die Proteste dagegen blieben immer im Rahmen, selbst wenn Bergarbeiter in Bonn ein wenig Randale machten. Während der Regierungszeit Kohls wurde der soziale Frieden zu einem Standortfaktor erster Güte geadelt, was u.a. dazu führte, dass Mahnwachen die militanteste Protestform der tatsächlichen und potenziellen Rationalisierungsopfer wurden.

Dass hierzulande der Wert des sozialen Friedens immer ins Feld geführt wurde, sobald in Nachbarländern wie Frankreich rabiate Proteste oder schlagkräftige Streiks zu beobachten waren, stellte für die Kohl-Regierung ein großes, allerdings uneingestandenes Problem dar. Während Ronald Reagan und Margret Thatcher den neoliberalen Umbau ihrer Gesellschaften mit großem Schwung betrieben, hinkte die deutsche Regierung, obwohl sie erklärtermaßen die gleichen Ziele verfolgte, hinterher.

Der Abbau von Arbeitnehmerrechten, Kürzungen in Sozial- und Bildungshaushalten, die Demontage öffentlicher Infrastrukturen usw. kamen zwar voran, aber nur im Schneckentempo. Das lag vor allem daran, dass bei jeder Absichtserklärung der soziale Frieden beschworen wurde, teilweise innerhalb der Unionsparteien selbst. Das größte Hindernis für die neoliberalen Modernisierer der achtziger und neunziger Jahre war ein Bündnis aus Gewerkschaften, Sozialdemokratie und Kirchenleuten. Durch regelmäßiges und lautstarkes Grollen täuschte dieses Bündnis eine unüberwindliche Macht zur Verteidigung des sozialen Friedens, also des Status quo, vor. So entstand der vielbeklagte Reformstau, und Kohl wurde abserviert.

Schröder war eine echte Alternative, weil er - mit der Wahlkampfparole »Innovation und Gerechtigkeit« - zwei Dinge gleichzeitig versprach: Erstens endlich die Beschränkungen für die Anhäufung und Verwertung von Kapital zu beseitigen, und zweitens dennoch den sozialen Frieden zu gewährleisten. Die Oberschichten und Eliten waren von dieser glaubhaften Aussicht auf flotte und friedliche Bereicherung verständlicherweise restlos begeistert. Jene, die prinzipiell in Opposition zu Kohl gestanden hatten, waren zwar misstrauisch, glaubten aber, schlimmer als unter Schwarz-Gelb könnte es nicht mehr werden, und im Übrigen werde Oskar Lafontaine die Einhaltung gewisser sozialpolitischer Spielregeln garantieren.

Aber es kam anders. Lafontaine, die Galionsfigur der Bedrohten, konnte von Schröder und den Unternehmerverbänden nach ein paar Monaten aus der Regierung herausgemobbt werden, ohne dass sich irgendeine Art von Widerstand rührte. Dass Lafontaines Rücktritt als Anfall verletzter persönlicher Eitelkeit dargestellt wurde, sollte verdecken, dass die Lösung dieser Personalfrage für den politischen Durchbruch des Schröder-Fischer-Programms entscheidend war.

Danach machten Schröder, Fischer und der neue Finanzminister Hans Eichel mit der Innovation ernst und mit den bisherigen Halbheiten Schluss. Seitdem geht es vor allem um zwei Großprojekte. Die rot-grüne Steuerreform beschleunigt mit der Senkung des Spitzensteuersatzes und trotz der Senkung des Eingangssteuersatzes die Umverteilung nach oben in einer geradezu atemberaubenden Weise.

Wichtiger noch sind die vielfältigen Erleicherungen für Firmen. Sie sorgen dafür, dass deutsche Unternehmen die internationale Konkurrenz mit dem Vorteil der geringsten realen Abgabenquote bestreiten dürfen. Ein wirklich fundamentales Projekt ist auch die Rentenreform. Mit der Festschreibung einer Beitragsobergrenze für Unternehmer und der privaten Zusatzvorsorge der Lohnabhängigen beginnt die Zerschlagung der paritätischen Sozialversicherung. Mit den gegenwärtig geplanten Beiträgen des Privatanteils wiederum würden Investmentfonds, Versicherungen und Banken bereits bis zum Jahr 2010 über einen zusätzlichen Kapitalstock von 600 Milliarden Mark verfügen, der die deutsche Position auf den internationalen Finanzmärkten kräftig stärken dürfte.

Dass Rot-Grün zur Stärkung der nationalen Wirtschaft die einfachen Leute so umstandslos ausplündern und trotzdem den sozialen Frieden bewahren kann, liegt zum einen an der ideologischen Formierung der Kohl-Jahre. Empirische Erhebungen zeigen, dass viele Arbeitnehmer den Standortnationalismus so weit verinnerlicht haben, dass sie zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Unternehmens auch die verwegensten Verzichtsforderungen freiwillig erfüllen. Gleichzeitig spricht die Neue Mitte die potenziellen und tatsächlichen Verlierer nicht mehr als Sozialschmarotzer und Leistungsverweigerer an, sondern versucht, sie als Vollmitglieder einer halluzinierten »zivilen Bürgergesellschaft« (Schröder) im Boot zu halten.

Zum zweiten gehen die Großreformen deshalb so reibungslos über die Bühne, weil Rot-Grün - gestärkt durch eine gute Wirtschaftskonjunktur - geschickt den Schein erweckt, Einschnitte zu kompensieren. Dort etwas mehr Kindergeld, hier ein höherer Freibetrag, die Entfernungspauschale, Heizkostenzuschuss für sozial Schwache. Im Vergleich zur Steuer- und Rentenreform handelte es sich hier um Peanuts, aber wer die großen Sachzwänge verinnerlicht hat, ist erst recht für jede Mark dankbar.

Zum dritten, und das ist wohl der wichtigste Punkt, haben Schröder und Fischer die realen politischen Kräfteverhältnisse intuitiv richtig eingeschätzt. Ihre Parteien sind auf mittlere Sicht so formatiert, dass Regierungsfähigkeit an erster Stelle steht und auch ganz grobe Verstöße gegen die eigene Programmatik hingenommen werden. Wer will, kann auf lokalen Versammlungen der SPD oder der Grünen kräftig, aber folgenlos über die Regierung schimpfen.

Die Gewerkschaften - von Kohl irrtümlich noch, von Schröder bewusst nicht mehr ernst genommen - sind als Träger sozialpolitischer Gegenmacht vorerst erledigt. Zum einen kann die SPD darauf bauen, dass die Führer der Lohnabhängigen sozialdemokratische Regierungen immer noch partout als Partner sehen wollen, zum anderen ist den Gewerkschaften in Wirklichkeit längst abhanden gekommen, womit sie früher wirkungsvoll drohen konnten: die Mobilisierungsfähigkeit. Deshalb hört ihnen keiner mehr zu.

Weil auch sie dem Standortnationalismus frönen und großenteils autistischer Selbstbespiegelung verfallen sind, sind sie daran zum Teil selbst schuld. Dafür, dass die postfordistischen Arbeitsverhältnisse ihrer Organisationsidee immer weniger entsprechen, können sie nichts. Aber die rot-grüne Innovationspolitik nutzt auch diese Schwäche weidlich aus.

Dass die großspurige Gegenmacht endgültig zur virtuellen geworden ist, verdeutlichte vor ein paar Tagen die IG-Metall. Als »Initiative für soziale Gerechtigkeit« hat sie die Aktion »fairteilen« gestartet. In der zugehörigen Broschüre wird nicht nur der übliche reaktionäre Quatsch des vom nationalen Kollektiv »gemeinsam erwirtschafteten Reichtums« aufgewärmt. Weiter heißt es in dem angestrengt oppositionellen Text: »Neue Politik ist gefragt. Fantasie für Reformen und Mut zur Verteilungsgerechtigkeit. Dann werden Standortsicherung, Wettbewerbsfähigkeit und volkswirtschaftliches Wachstum zum Selbstläufer.« Fast möchte man wetten, dass sich Schröder als einer der ersten in die Unterschriftenliste einträgt.