Alternative Lebensformen

Mann mit Mütze

Ich habe Thomas Mann gesehen. Er stand am Schnellimbiss Manstein-/Ecke Großgörschenstraße und trug eine schwarze Schiffermütze. Zugegeben: Es ist kaum vorstellbar, dass der bedeutendste deutsche Schriftsteller nach Goethe hinter einem schäbigen Plastiktisch eine Currywurst verzehrt. Noch dazu mit einer wenig kleidsamen Mütze auf dem Kopf. Aber die Wahrheit ist manchmal eben nur schwer zu ertragen.

Nach seiner Mahlzeit stand der Literaturnobelpreisträger zunächst unschlüssig ins Leere blickend da, die Hände tief in den Taschen seiner dunkelbraunen Cordhose vergraben. Es bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass es sich bei dem Herrn mit der unansehnlichen Mütze einwandfrei um den deutschen Dichter Thomas Mann handelte. Nur: Was war in den Wahlschweizer und Ehrenbürger der Stadt Lübeck gefahren, sich an einer Berliner Imbissbude herumzutreiben? Und warum diese alberne Mütze anstatt des so gewohnten obligatorischen Hutes?

Darüber und über ähnliche Fragen sann ich nach, während ich - an der schräg gegenüber liegenden Hausecke stehend und von diesem eigentümlichen Geschehen gänzlich fasziniert - beobachten konnte, wie der Schriftsteller leicht wankend, aber gemessenen Schrittes an den türkischen Wirt der Imbisstube herantrat und mit ihm scherzend verhandelte. Dann, ausgestattet mit zwei großen Dosen Bier, deren eine er rasch und behende in seine nahezu vollgepackte Plastiktüte gleiten ließ, kehrte er an den Tisch zurück.

Ich musste unwillkürlich an den »Zauberberg« denken, bei dem es sich unbestritten um eines der bedeutendsten Prosawerke der klassischen Moderne handelt. Die rätselhafte Madame Chauchat ging mir durch den Sinn. Die furiosen politisch-philosophischen Dialoge zwischen Settembrini, dem glorreichen Vertreter des Rationalismus und der Aufklärung, und Naphta, dem fanatischen Geheimbündler und Jesuiten, fanden schlagartig zurück in meine Erinnerung.

Der Blick des Dichters, der gerade im Begriff war, sein Dosenbier zu trinken, schien mir gleichsam entrückt und in die weite Ferne gerichtet zu sein.

Den Atem anhaltend fragte ich mich nach einer Weile, ob ich hinübergehen und ihn ansprechen solle - insbesondere auf seine Wandlung vom erzkonservativen Nationalisten zum glühenden Gegner des Hitlerfaschismus. Aber ich kam nicht mehr dazu. Nachdem er, der große Schopenhauer- und Wagnerkenner Thomas Mann, der Romanautor von Weltrang, sein Bier ausgetrunken, die leere Metalldose zerdrückt und achtlos auf die Straße geworfen und schließlich seine ausgebeulte Einkaufstüte zur Hand genommen hatte, machte er sich auf den Weg zum S-Bahnhof Großgörschenstraße.

Zunächst wagte ich nicht, mich von der Stelle zu bewegen. Meine Augen aber folgten noch einige Zeit dem großen Schriftsteller, der - wie ich nun zu meinem Leidwesen erkannte - in grünen Gummistiefeln seines Weges ging.