Pinochets Immunität aufgehoben

Das Mittelmaß siegt

Pinochets Immunität ist aufgehoben worden. Aber ein endgültiges Urteil gegen Chiles Ex-Diktator könnte noch acht Jahre auf sich warten lassen.

Hoppla, da ist sie weg - die parlamentarische Immunität, die sich der chilenische Ex-Diktator Augusto Pinochet vorausschauend als »Senator auf Lebenszeit« verschafft hatte. Am Dienstag vergangener Woche machte der Oberste Gerichtshof Chiles seine mit 14 gegen sechs Stimmen gefällte Entscheidung publik, Pinochet dieses Privileg zu entziehen. Damit bestätigte die höchste Instanz der chilenischen Justiz den Spruch des Appellationsgerichtes von Ende Mai, gegen den Pinochets Anwälte Berufung eingelegt hatten; ein weiteres Rechtsmittel gegen die Aufhebung der Immunität existiert nicht.

Deshalb kann Richter Juan Guzmán nun strafrechtlich gegen Pinochet vorgehen. Er hatte die Aufhebung der Immunität beantragt - wegen 19 Opfern der so genannten Todeskarawane, deren Leichen bis heute nicht aufgetaucht sind. Die »Todeskarawane« war eine staatliche Aktion zur Ermordung von politischen Gefangenen, der im Oktober 1973 - kurz nach Pinochets Putsch gegen die Unidad-Popular-Regierung unter Salvador Allende - 74 Oppositionelle zum Opfer gefallen sein sollen. Die 19 »Verschwundenen« unter ihnen gelten als Entführte. Entführungen aber verjähren nach chilenischem Recht nicht, und sie fallen auch nicht unter Pinochets Amnestiegesetz von 1978, solange die Opfer oder ihre Überreste nicht aufgefunden sind. Tausend der etwa 3 000 Opfer von Pinochets 17jähriger Herrschaft gelten als »Verschwundene«, und mittlerweile stapeln sich bei Richter Guzmán 162 Klagen gegen Pinochet.

Der Entscheid zur Aufhebung von Pinochets Immunität traf auf geteilte Reaktionen. Pinochets Gegner jubelten. Klägervertreter Eduardo Contreras, der im Januar 1998 die erste der Klagen gegen den mörderischen Senator auf Lebenszeit im Namen von Gladys Marin, einer Sekretärin der Kommunistischen Partei, eingelegt hatte, widmete diesen juristischen Sieg gar den »Gefallenen und Opfern des ehemaligen Regimes«. Contreras wies aber darauf hin, dass der Prozess gegen den 84jährigen Pinochet »bis zu acht Jahre« dauern könnte.

In den Reihen der Pinochet-Anhänger flossen hingegen Tränen über den neuen »Fehltritt« der Justiz gegenüber dem »Befreier des Vaterlands«, wie sie den Ex-Diktator gerne bezeichnen. Einige seiner Anhänger verbrannten Knochen vor den Gerichten, die Überreste der »verschwundenen Gefangenen« symbolisierten. Indes meinte der General a.D. in seinem Wohnsitz im hauptstädtischen Viertel La Dehesa nach Angaben seiner Tochter Jaqueline nur: »Das ist nicht das Ende der Welt.«

Die Rechte, die daran gewöhnt ist, das »Recht des Stärkeren« zu praktizieren, d.h. nur das zu akzeptieren, was ihr gefällt, kritisierte die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs hart. Für den Sohn des Ex-Diktators, Marco Antonio Pinochet, handelt es sich ganz einfach um ein »politisches Urteil«. Der Präsident der Stiftung Augusto Pinochet, General a.D. Luis Cortés Villa, bezeichnete den Entscheid gar als »letzten Schritt einer Rache, die vom nationalen wie internationalen Sozialismus orchestriert« werde.

Der Parteisekretär der ultrakonservativen Partei Uni-n Dem-crata Independiente (UDI), Juan Antonio Coloma, beklagte den Versuch der Linken, »die Geschichte neu zu schreiben«, und versicherte, dass diejenigen, die heute Pinochet verfolgten, die gleichen seien, die damals »die Gewalt und das Chaos nach Chile brachten«.

In diesem Sinne erklärte sich auch der Heereschef, General Ricardo Izurieta, nachdem er einen Solidaritätsbesuch bei Pinochet gemacht hatte: »Das Urteil der Geschichte ist noch nicht gefällt (...) und sicher wird mein General Pinochet einen hervorragenden Platz in ihr einnehmen.« Den Präsidenten der Produzenten- und Handelsvereinigung, Walter Riesco, überfiel wie üblich die Panik. Der Entscheid könne sich negativ auf den Prozess der wirtschaftlichen Erholung in Chile und die ausländischen Investitionen auswirken.

Die Regierung des Sozialdemokraten Ricardo Lagos hingegen gab sich neutral. Sie verwies auf die Unabhängigkeit der Justiz, forderte Respekt vor ihren Urteilen und gesellschaftliche Zurückhaltung. Claudio Huepe, Sprecher der Moneda, des Sitzes der Exekutive, betonte, dass Urteile »ohne Pressionen oder Interventionen irgendeiner Art« geachtet werden müssten. Das Land müsse »in eine neue Etappe eintreten, die die institutionelle Normalität festigt«.

Nun bahnt sich eine weitere Auseinandersetzung an. Nach der chilenischen Strafprozessordnung ist das Gericht verpflichtet, an jeder Person, die älter als 70 Jahre ist, Untersuchungen der geistigen Kräfte wegen der Prozessfähigkeit vorzunehmen. Das gilt auch im Fall Pinochet.

Doch verschiedene Angehörige der Pinochet-Familie haben bereits gewarnt, der Caudillo werde es nicht akzeptieren, sich solchen Untersuchungen zu unterziehen; so etwas wäre für den General a.D. eine Schande. Die Auffassung seines Sohns Marco Antonio war klar: »Ich werde nicht akzeptieren, dass es ein medizinisches Urteil gibt.« Er fügte hinzu, dass sein Vater sich dieser »historischen Gelegenheit« stellen werde, um persönlich vor den Gerichten das Werk seines Regimes zu verteidigen.

Für Klägervertreter Contreras stellt sich das anders dar. Weigere sich der Senator auf Lebenszeit, seine geistigen Fähigkeiten überprüfen zu lassen, könne man seine Verhaftung wegen Unbotmäßigkeit anordnen. Auf der anderen Seite argumentierte Pinochets Verteidiger Pablo Rodriguez, Ex-Leader der faschistischen Gruppe Patria y Libertad, dass Pinochet das Recht habe zu wählen, ob er sich der Untersuchung unterwerfe oder nicht, da die entsprechende Vorschrift zu Gunsten des Angeklagten bestehe.

Ein anderer Streitpunkt wird das Schicksal des so genannten Dialogforums sein, bei dem die von Vertretern des Staates in der Zeit der Diktatur (1973 bis 1990) begangenen Menschenrechtsverletzungen geklärt werden sollen. Schon vor dem Richterspruch hatte die Rechte wiederholt geäußert, ein Entscheid zu Ungunsten Pinochets könnte die Suche des Militärs nach Informationen über die »verschwundenen Gefangenen« behindern (Jungle World, 26/00).

Teile der Linken versichern dennoch, dass der Entscheid an der grundsätzlichen Entschlossenheit der Militärs nichts ändern werde, bei der Suche nach den »Verschwundenen« mitzuwirken, auch wenn sie sich bislang noch weigern, Informationen über den Verbleib der Opfer zu liefern.

Im Umkreis der Menschenrechtsanwälte und der Angehörigen der Opfer wird die Aufhebung von Pinochets Immunität als »großer Sieg« gesehen. Weil ein langes Verfahren befürchtet wird, das charakteristisch für das chilenische Rechtssystem wäre, glauben allerdings nur wenige, dass der Caudillo noch zu Lebzeiten verurteilt wird.

Einige Regierungsmitglieder teilen im Stillen diese Haltung. Nach Angaben der chilenischen Zeitung La Tercera ist für sie schon die Aufhebung der Immunität eine »moralische Strafe«. Die Administration dürfte nichts dagegen haben, dass der Fall sich in die Länge zieht. Dann könnte sie ungestört von politischen Turbulenzen die Kompromisse des »Dialogforums« weitertreiben und sich der schweren Aufgaben auf wirtschaftlichem Gebiet widmen.