Schleichwege ins Schengenland

Ob durch die Luft, über Land oder zu Wasser: Wer die Flucht nach Westeuropa überlebt, kann von Glück reden. Drei Spots auf die EU-Außengrenzen.

Großbritanniens Innenminister Jack Straw schien wirklich erschüttert zu sein: »Das ist ein fürchterliches Ereignis. Ich bin zutiefst entsetzt über diesen Verlust an Menschenleben.« Dennoch könnten die 58 chinesischen Flüchtlinge wohl noch leben, gäbe es nicht Jack Straw, seine New-Labour-Regierung und deren Abschottungspolitik.

Denn dass Flüchtlinge darauf verfallen, unter lebensgefährlichen Umständen versteckt in Lastwagen und Schiffsladungen nach Großbritannien einzureisen, das ist vor allem das Produkt einer Politik, die ihnen menschenwürdigere Transportmittel systematisch verwehrt. Und diese Politik gäbe es nicht, hätte sich nicht New Labour - und allen voran Jack Straw - auf einen Wettkampf mit den Konservativen um die wirkungsvollste Form der Abschottung eingelassen.

Bis vor zwei Jahren gab es für Flüchtlinge aus China und anderen asiatischen Staaten eine Haupt-Einreiseroute nach Großbritannien: Sie benutzten die Economy Class der British Airways. Auf dem Flughafen Heathrow angekommen, stellten die meisten derjenigen, die bleiben wollten, einen Asylantrag. Andere reisten zunächst mit einem Touristenvisum ein und stellten den Antrag entweder später oder blieben nach Ablauf des Visums illegal in Großbritannien.

Dann verfügte die Labour-Regierung eine Strafe, welche Airlines zu bezahlen hatten, die Passagiere ohne gültige Einreisedokumente beförderten. Damit wurden die Fluglinien zu verlängerten Armen der Einwanderungsbehörde. Die Einreise auf dem Luftweg war nur noch für solche Flüchtlinge möglich, die die Möglichkeit hatten, eines der begehrten Touristenvisa zu ergattern - in Hauptherkunftsländern wie China, Sri Lanka, Ghana oder Jamaika fast ein Ding der Unmöglichkeit. Und gerade in Staaten, in denen politische Verfolgung herrscht, wird die Antragstellung häufig von den Behörden bemerkt, was dann zur Folge haben kann, dass der oder die Ausreisewillige präventiv in Haft genommen wird.

Doch auch wer ein Visum bekommt, hat noch keine Garantie, jemals britischen Boden außerhalb eines Flughafens zu betreten. Routinemäßig werden Einreisewillige aus Hauptfluchtländern - und dazu zählen selbst europäische Staaten wie Polen - an Flughäfen und Häfen überprüft.

Dazu zählt neben stundenlangen Verhören, bei denen die familiäre und berufliche Situation ebenso abgefragt wird wie die Namen von Hotels, in denen der Reisende abzusteigen plant, auch die Überprüfung der mitgeführten Geldmittel und selbst der Wäsche. Wer nicht genügend Bares dabei hat, riskiert ebenso zurückgewiesen zu werden wie jemand, der viele Kleidungsstücke mit britischen Etiketten sein Eigen nennt, aber kein britisches Visum im Pass hat: Damit setzt man sich dem Verdacht aus, schon einmal unter anderem Namen nach Großbritannien eingereist zu sein.

Am ersten April 2000 wurde nicht nur das Asylverfahren in Großbritannien weitgehend dem deutschen Standard angepasst, sondern auch die Einreise nochmals erschwert: Unter anderem sollen an den Schaltern von Fluglinien im Ausland jetzt weitere Verbindungsleute der britischen Einwanderungsbehörde dafür sorgen, dass Flüchtlinge nicht versuchen, mit gefälschten Papieren einzureisen. Auf die ersten Leichenfunde im Frachtraum von Flugzeugen wird man wohl nicht lange warten müssen.

Todesstraße von Gibraltar

»Das Wasser war eisig kalt. Meine Cousine versuchte sich an der Oberfläche zu halten, aber sie konnte nicht schwimmen. Ich musste mit ansehen, wie sie neben mir ertrank«, erzählt Mounia Chitou. Die 18jährige Marokkanerin setzte vor drei Wochen nachts mit einem Fischerboot von Tanger zur südspanischen Küste bei Algeciras über. Das Boot kenterte beim Versuch, der spanischen Guardia Civil zu entkommen. Sie hatte noch einmal Glück. Viele Passagiere bezahlten die nächtliche Durchquerung der Straße von Gibraltar mit dem Leben.

Immer mehr Menschen wagen die riskante Überfahrt. Über 2 700 Einwanderer und Einwanderinnen haben die spanischen Behörden in den letzten fünf Monaten festgenommen - doppelt so viele wie im vergangenen Jahr. Durchschnittlich tausend Menschen sterben jährlich bei dem Versuch, die Küste Spaniens zu erreichen. Hunderte gelten als vermisst. »Während in anderen Jahren die Flüchtlingsboote erst Anfang Juni kamen, wenn die Stürme abgenommen haben und die Wasser der Straße von Gibraltar ruhiger geworden waren, mussten wir in diesem Jahr schon seit Ende Februar täglich illegale Einwanderer aus den Booten holen«, erklärt der Guardia-Civil-Beamte, Javier çlvarez.

Die Winde und Strömungen in der Straße von Gibraltar machen die nächtliche Überfahrt zu Himmelfahrtskommandos. Täglich zieht die Polizei Leichen aus den Gewässern vor den langen Küsten der iberischen Halbinsel und der Kanarischen Inseln. Vor allem Marokkaner und Schwarzafrikaner versuchen mit oft seeuntüchtigen Nussschalen, die spanischen Strände zu erreichen.

Noch bis vor einem Jahr durchbrachen nachts Hunderte die nur zwei Meter hohen Grenzanlagen zu den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla an Afrikas Nordküste. Doch seitdem diese mit höheren Stacheldrahtzäunen, Infrarot- und Wärmekameras sowie Nachtsichtgeräten zu gut abgesichert sind, führt eine neue Strecke von der Westsahara zur Ostküste Marokkos. Spanische Einwanderungsexperten schätzen, dass hier rund 25 000 Flüchtlinge darauf warten, zu den Kanarischen Inseln überzusetzen. Rund ein Viertel dürfte die Reise per Boot antreten.

Die meisten Flüchtlinge auf den Kanaren kommen aus Nigeria, Sierra Leone und Ghana. Per Stopp, im Bus oder zu Fuß legen sie teilweise mehr als 3 000 Kilometer zurück, um die marokkanische Küstenstadt El Ayun zu erreichen. Von hier aus sind es nur noch zwölf Stunden per Boot nach Fuerteventura.

Dennoch: Der Großteil der illegalen Einwanderer kommt weiterhin über die Straße von Gibraltar. Die Vereinigung marokkanischer Einwanderer und Arbeiter in Spanien (Atime) schätzt, dass jährlich 30 000 Personen den »Estrecho«, wie die Spanier die Meeresenge nennen, überqueren. Seit Januar haben Küstenwache und die Guardia Civil rund 1 800 Menschen festgenommen, die den gefährlichen Weg durch die Strömungen des Mittelmeereinganges gewählt haben. Mindestens ebenso viele, so Vermutungen der Guardia Civil in Algeciras, sind durchgekommen. Über 7000 Menschen warten derzeit in der marokkanischen Stadt Tetuán auf die Überfahrt.

Feindberührung am Neusiedler See

Der junge Mann blickt zu seiner Frau, und dann ratlos um sich. Vor einer Woche dem Tod entronnen, steht ein 23jähriger junger Mann aus Afghanistan in Österreich und weiß nicht weiter. Gemeinsam mit seiner zweijährigen Tochter ist das Paar seit zwei Tagen in der Alpenrepublik. Genauer: in Gattendorf.

Gattendorf liegt im Burgenland, dem östlichsten Außenposten Österreichs. Dort, wo Schengenland aufhört. Und während wenige Autominuten von Gattendorf entfernt, am größten Steppengewässer Europas, dem Neusiedler See, zahlreiche Freizeitsegler die Takelage hochziehen, patrouillieren an der 454 Kilometer langen österreichisch-ungarischen Grenze Soldaten. Ausgerüstet mit geladener Waffe und Fernrohr.

Sie tun das jetzt bereits im zehnten Jahr. Und immer wieder präsentiert das österreichische Bundesheer einmal im Jahr stolz die Bilanz der so genannten Feindberührung: Knapp 36 000 »illegale Grenzgänger« konnten seit September 1990 an der »Demarkationslinie abgefangen« oder »aufgegriffen« werden, wie es im Militär-Jargon heißt. 1999 kamen dann nochmals 5 200 dazu. Das Bundesministerium für Innere Angelegenheiten belohnte diese Glanztat mit einer Verlängerung des »Assistenzeinsatzes« bis Ende 2000.

Hassan B. weiß von all dem nichts. Er macht sich hauptsächlich Sorgen um sein Kind. Das hat nämlich seit zwei Tagen nichts zu essen bekommen. Dabei haben er und seine Familie noch Glück gehabt. Sie wohnen in einem Sporthotel, allerdings nur im rückwärtigen Trakt, dort, wo man den Gestank auf dem Flur und in den Zimmern nur bei weit geöffneten Fenstern erträgt.

»Gelinderes Mittel« nennt der österreichische Gesetzestext diese Art von Unterbringung. Sozusagen eine entschärfte Form der Schubhaft. Das bedeutet: Familie B. kann sich frei bewegen. Sie kann die Landstraße rauf und runter spazieren, einen Blick durch die Scheiben des Supermarkts werfen und wieder umkehren. Geld hat sie nämlich nicht. Der Besitzer des Sporthotels, meint Hassan B., habe eine abweisende Handbewegung gemacht, als er ihn um Nahrung für sein Kind bat. Oder um Windeln.

Dabei bekommt der Gastwirt Geld vom Staat, damit er die Flüchtlinge betreuen kann. Aber davon weiß Hassan B. nichts. Er wolle um Asyl ansuchen, sagt er, und auf keinen Fall abgeschoben werden. Aber bisher hat noch niemand mit ihm gesprochen.

Die Familie wäre schon gerne soweit wie die etwa 9 000 Flüchtlinge, deren Asylverfahren derzeit laufen. Ein Drittel davon wird staatlich betreut, beim Rest müssen private und kirchliche Vereine einspringen. Jugendliche, die ohne Eltern nach Österreich geflüchtet sind, werden häufig von einer öffentlichen Stelle zur anderen »geschoben« - bis sie auf der Straße landen. Um »unsere« Jugend mit Drogen zu versorgen - wie Haiders FPÖ es dann trefflich zu formulieren pflegt. Immerhin: Familie B. gehört nicht zu den »Aufgegriffenen«. Im Gegensatz zu Tausenden anderen Flüchtenden hat sie es geschafft. Sie ist im Schengenland. Vorerst.