Todesstrafe in den USA

Mit der Giftspritze auf Stimmenfang

Die Entscheidung über die Exekution von Gary Graham überließ George W. Bush dem Texas Board of Pardons and Paroles.

Er war die Nummer 135 auf George W. Bushs Todesliste: Am 22. Juni hat der Staat Texas im Gefängnis von Huntsville den 36jährigen Gary Graham wegen Mordes hingerichtet. Graham soll 1981, im Alter von 17 Jahren, auf dem Parkplatz eines Gemischtwarenladens in Houston einen Mann erschossen haben. Beweisstücke gibt es nicht, die Verurteilung basiert auf der Aussage einer einzigen Zeugin, die Graham bei einer Gegenüberstellung als Täter identifizierte. Sie erklärte vor Gericht, Graham aus ihrem Auto heraus im Licht der Scheinwerfer und zweier Straßenlaternen bei der Tat beobachtet zu haben.

Graham war noch mehrerer Raubüberfälle und der Vergewaltigung einer 57jährigen Frau überführt worden. Er hatte sich zu allen Vorwürfen schuldig bekannt, nur nicht zu dem Mord. Während sein Fall durch die Instanzen ging, fing Graham an, sich politisch gegen die Todesstrafe einzusetzen. Er nahm den Namen Shaka Sankofa an und schrieb in der Zeitschrift Endeavor über die rassistische Praxis in der Strafjustiz. Schwarze Bürgerrechtsbewegungen und mehrere Prominente, darunter der Schauspieler Danny Glover, engagierten sich für ihn.

Zu Grahams Hinrichtung waren etwa 400 Gegendemonstranten und 100 Ku-Klux-Klan-Anhänger angereist, die vor den Toren des Gefängnisses Sprechchöre anstimmten. Fünf Justizvollzugsbeamte zerrten den Verurteilten gewaltsam aus seiner Zelle und fesselten ihn an die Pritsche; in seiner letzten Ansprache wandte sich Graham an seine Unterstützer und rief sie auf, »den Genozid zu beenden«.

Graham ist der 222. Verurteilte, den der Staat Texas seit der Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA 1976 hingerichtet hat; seine Exekution ist die 135. in der Amtszeit des derzeitigen Gouverneurs von Texas und republikanischen Präsidentschaftskandidaten George W. Bush. Aufsehenerregend ist der Fall deshalb, weil er in eine Zeit fällt, in der in den USA die Diskussion um die Todesstrafe neue Impulse bekommen hat.

Ausgelöst wurde die neue Diskussion durch ein Vollstreckungsmoratorium, das der republikanische Gouverneur von Illinois, George Ryan, am 31. Januar verkündet hatte. 13 in Illinois einsitzende Todeskandidaten mussten wegen Prozessfehlern auf freien Fuß gesetzt werden. Teils hatten die Ermittlungsbehörden entlastende Beweisstücke unterdrückt, teils konnten die Verurteilten schwere Fehler ihrer Anwälte geltend machen. Seit Ryan das Moratorium verhängt hat, haben die gesetzgebenden Organe von New Hampshire einen Gesetzentwurf zur Abschaffung der Todesstrafe verabschiedet. Der Gouverneur, ein Demokrat, legte sein Veto ein. Religiöse Führer in Kalifornien haben ein Hinrichtungsmoratorium verlangt, in sechs weiteren Staaten wurden Moratorien in den Parlamenten diskutiert.

Kaum hatte Gouverneur Ryan die Worte »totaler Alptraum« ausgesprochen, als das Scheinwerferlicht schon auf seinen politischen Freund Bush in Texas fiel. Doch der ist sicher, dass die 135 Menschen, deren Hinrichtungsbefehle er bislang unterzeichnet hat, die Giftspritze auch verdient haben. Jeden Fall prüfe er sorgfältig; kein Unschuldiger sei in seiner Amtszeit hingerichtet worden.

Eine Studie der Columbia University von New York hat allerdings ergeben, dass die Fehlerquote bei Erstverurteilungen sehr hoch ist. Zwei Drittel der 5 760 Personen, die in den USA zwischen 1973 und 1995 zum Tode verurteilt worden sind, erhielten in der Revision deutlich niedrigere Strafen, sieben Prozent wurden wegen erwiesener Unschuld freigesprochen, und nur zwei von zehn wurden in der Revision erneut zum Tode verurteilt. Tatsächlich hingerichtet wurden in der untersuchten Zeitspanne nur fünf Prozent der in erster Instanz Verurteilten. Die Zahl der erwiesenermaßen Unschuldigen war also größer als die der Hingerichteten.

Was Bushs Aussage über die Fehlerlosigkeit der texanischen Strafjustiz besonders fragwürdig erscheinen lässt, ist der Umstand, dass in Texas die Revisionsmöglichkeiten sehr begrenzt sind. Knappe Fristen - innerhalb von 30 Tagen nach dem Urteil müssen neue Beweismittel eingereicht werden - und sehr enge Kriterien dafür, was als Fehlverhalten auf Seiten des Gerichtes oder der Staatsanwaltschaft gilt, machen es den Todeskandidaten schwer. Zudem werden seit Bushs Amtsantritt 1996 zwar nicht mehr Menschen zum Tode verurteilt als vorher, doch gibt sich der Gouverneur redlich Mühe, sein Wahlversprechen zu erfüllen, die kostenintensiven Todestrakte »leer zu räumen»: Texas exekutiert schneller als jeder andere Staat.

Auf der Hinrichtungsliste in Texas stehen allein für diesen Sommer und Herbst noch 14 Menschen; nicht nur rechte Kandidaten gehen bei Wahlen traditionell mit der Giftspritze auf Stimmenfang. Doch seit die Diskussion um die Fehlerhaftigkeit der Justiz in Gang gekommen ist, wird auch Bush trotz seiner markigen Worte vorsichtiger: Die Entscheidung, Graham hinzurichten, ließ sich der Gouverneur vom Texas Board of Pardons and Paroles, einem von ihm ernannten 18köpfigen Komitee, abnehmen. Dessen einstimmiger Beschluss, Gary Graham zu töten, ließ Bush keine Möglichkeit, ihn zu begnadigen. Für das Kongress-Mitglied Jesse Jackson aus Illinois, der als Beobachter bei der Hinrichtung anwesend war, ist klar, dass das Board auf Bushs Anweisung gehandelt hat. »Mit einem Kopfnicken« hätte Bush die Hinrichtung verhindern können, sagte Jackson der Washington Post. Bushs Büro teilte mit, dass solche Dinge außerhalb der Macht des Gouverneurs lägen.

Vor vier Wochen hatte Bush zum ersten Mal in seiner Amtszeit eine Hinrichtung ausgesetzt. Der 1994 wegen Vergewaltigung und Mord zum Tode verurteilte Ricky McGinn war schon auf dem Weg zur Hinrichtung, wurde dann aber doch nicht die Nummer 132 auf Bushs Liste. In der Unterhose des Opfers waren Spermaspuren und ein Schamhaarpartikel gefunden worden. Diese Beweismittel waren nicht in den Prozess eingebracht worden. Eine DNS-Analyse soll nun zweifelsfrei bestimmen, ob McGinn der Mörder war.

Die DNS-Analyse hat sich zum zentralen Punkt in der Debatte um die Todesstrafe entwickelt. Seit vor fünf Jahren Roberto Cruz - wieder in Illinois - als erster Todeskandidat einer Serie durch eine DNS-Analyse entlastet und nach zehn Jahren in der Todeszelle frei kam, hat sich die Diskussion um das staatlich verordnete Töten verändert. Waren die Argumente der Todesstrafengegner bisher hauptsächlich von ethischen Erwägungen geprägt, so geht es nun mehr um die Möglichkeit - und die Realität, wie die Studie der Columbia University zeigt - von Justizirrtümern. Auch Befürworter der Todesstrafe, wie zum Beispiel Gouverneur Ryan, fordern immer häufiger DNS-Analysen. In Fällen wie dem von Roberto Cruz - alle Instanzen waren durchlaufen, die Frist zur Beweisaufnahme war verstrichen - dienten DNS-Analysen als Grundlage einer Begnadigung durch Gouverneure.

Staatskritische Organisationen wie die National Coalition to Abolish Death Penalty sehen darin eine Gefahr. Befürworter der Todesstrafe könnten mit der Überführung von Tätern anhand ihres Erbgutes der Todesstrafe neue Legitimation verschaffen. Die Frage, ob ein Staat überhaupt das Recht zu töten besitzen sollte, wäre somit weitgehend verschwunden.

Das Aufheben, das um DNS als Beweismittel gemacht wird, entspringt eher der Verunsicherung der Befürworter der Todesstrafe denn der Stärke ihrer Gegner. Ein nachgewiesener Justizmord würde das politische Aus für einen Gouverneur bedeuten. Vor allem für den Präsidentenanwärter Bush steht eine Menge auf dem Spiel. Vor diesem Hintergrund ist Bushs neuerliche Vorsicht zu verstehen. Nach wie vor ist in den USA, wie in anderen Ländern auch, die Mehrheit der Bürger für die Todesstrafe. Mit der DNS-Analyse besteht nun aber die Möglichkeit eines posthumen Gegenbeweises. Zur neuen Vorsicht gehört auch, dass Beweismittel aus alten Fällen vernichtet werden - so bereits geschehen im Fall des 1997 in Virginia hingerichteten Joseph O'Dell. Es geht also nicht um Schuld oder Unschuld von Todeskandidaten, sondern um die Legitimation der Justizpraxis.