Im Zeichen des Schlangenkopfs

Die Toten von Dover haben ihren Zweck erfüllt: EU-Innenminister fordern weitere Maßnahmen, um die Außengrenzen der Festung Europa dicht zu machen.

Der Reflex funktioniert: Immer dann, wenn die besonders gewalttätige Seite der europäischen Fluchtabwehr in den öffentlichen Blick gerät, folgt umgehend der Ruf nach härterem Vorgehen gegen »Schlepper und Schleuser«. So auch vergangene Woche, nachdem 58 chinesische Flüchtlinge in einem Container im britischen Dover erstickten.

Presse und Politiker überboten sich mit Forderungen nach einer weiteren Abstimmung des Asylrechts in Europa und einer verstärkten Bekämpfung illegaler Zuwanderung. Der Tenor: Den »fluchtwilligen Menschen« müsse am besten gleich vor Ort in den Herkunftsstaaten geholfen werden, damit sie so nicht in die Hände der »menschenverachtenden Schlepper-Mafia« geraten.

Dass nun angesichts der gestorbenen Immigranten sofort wieder Erschwerungen bei der Zuwanderung gefordert werden, zeigt, wie weit der politische Konsens inzwischen von dieser Abschottungslogik diktiert ist. Weder grüne noch sozialdemokratische Politiker kamen auf den simplen Gedanken, dass die Flüchtlinge nicht hätten ersticken müssen, zwänge sie nicht die europäische Flüchtlingspolitik zu derartigen Reisemethoden. Stattdessen versprach etwa der linksnationalistische französische Innenminister Jean-Pierre Chevènement nach dem Tod der Chinesen, die EU-Ratspräsidentschaft seines Landes dafür zu nutzen, die Kontrollen an den EU-Außengrenzen zu verschärfen. Für eine stärkere polizeiliche Zusammenarbeit in Europa machte sich sein deutscher Amtskollege Otto Schily (SPD) stark.

Dabei ist die Tragödie von Dover nur Folge jener Harmonisierung des europäischen Asylrechts, deren konsequente Umsetzung in den letzten Tagen erneut von Sozialdemokraten, Grünen und christlichen Parteien eingefordert wurde. Ihre Besonderheit besteht allerdings darin, dass die Leichen im europäischen Kernland entdeckt wurden: Hunderte andere Fälle, bei denen Flüchtlinge mit überladenen, seeuntüchtigen Schiffen im Mittelmeer oder der Ostsee untergehen, sind den Tageszeitungen üblicherweise bestenfalls eine Randnotiz wert.

Ähnlich wie der Franzose Chevènement reagierte der britische Innenminister Jack Straw. Er forderte am Tag nach der Entdeckung der Leichen, in Zukunft solle sich Europa nicht mehr an den Text der Genfer Flüchtlingskonvention binden, sondern die Menschen »in ihrer Heimatregion schützen, damit sie nicht nach Europa müssen«. Ihm und den Autoren des Amsterdamer Vertrages, der seit dem vergangenen Jahr die Asyl- und Migrationspolitik von der nationalstaatlichen auf die europäische Ebene verlagern soll, schwebt dabei eine Lösung vor, wie sie im Kosovo-Krieg praktiziert wurde. Dort wurden Flüchtlinge in einem Lagerregime nahe der jugoslawischen Grenze von Militär- und Hilfsorganisationen aufgefangen und versorgt.

Das einklagbare Recht auf Asyl, welches bisher Grundlage nationaler Asylpolitik in den westeuropäischen Ländern war, wurde dabei de facto aufgehoben und durch ein so genanntes politisches Schutzkonzept der »heimatnahen Versorgung« abgelöst. Das Ziel: Die Fluchtbewegung soll gleich vor Ort abgefangen werden.

Noch bevor also der erste Flüchtling die jugoslawische Grenze überquert hatte, standen schon die Hilfswerke bereit. Neben Decken und Nahrung hatten sie das Konzept des »Rechtes auf Heimat« im Gepäck. Liest man die neu erstellten Aktionspläne der EU-High Working Group on Migration für die Hauptherkunftsländer Albanien, Irak, Afghanistan, Marokko und Somalia, so soll in Zukunft der Modellfall Kosovo zur Leitlinie europäischer Asylpolitik werden. Im Kern geht es den Planern in Brüssel darum, eine Handhabe zu finden, um den seit 1951 durch die Genfer Flüchtlingskonvention garantierten individuellen Anspruch auf Asyl auszuhebeln (siehe Dossier Seiten 15 bis 18).

Dabei sind humanitäre Äußerungen, die diese Pläne flankieren und untermauern sollen, nichts als Kosmetik. So etwa die Erklärung des EU-Kommissars Antonio Vitori, man wolle in »Partnerschaft mit den Herkunftsländern dort Lebensbedingungen schaffen, die es ihnen ermöglichen, in der Heimat zu bleiben und nicht illegal auszuwandern«. Es bedarf keiner großen Spekulationen, um sich vorzustellen, wie es um diese von der EU zu schaffenden Lebensbedingungen bestellt sein wird: Seit nunmehr zehn Jahren kürzen die Industrienationen kontinuierlich ihre für Entwicklungshilfe vorgesehenen Budgets. Die Kluft zwischen reichen und armen Ländern dagegen war noch nie so groß wie am Ende des Jahrhunderts. Faktisch sind zudem schon jetzt Hilfsgelder für Drittweltländer an Rücknahmeabkommen und fluchtverhindernde Maßnahmen vor Ort gebunden.

Dagegen steigen die Ausgaben, die für die Umsetzung repressiver Fluchtabwehr vor Ort bereitgestellt werden, um die Sicherung der Land- und Seegrenzen mit quasi militärischen Mitteln in die europäische Peripherie zu verschieben. Scanner, Infrarotkameras, Schnellbote und Hundestaffeln sorgen dafür, dass Flüchtlinge schon möglichst weit außerhalb des EU-Hoheitsgebietes aufgegriffen und regional »entsorgt« werden.

Angesichts einer derart umfassenden Abriegelung bleibt Menschen aus dem Trikont kaum eine andere Wahl, als auf professionelle Fluchthilfe zurückzugreifen. Die technischen Schwierigkeiten zur Überwindung der Grenzen sind für die meisten Flüchtlinge alleine nicht mehr zu bewältigen. Längst ist die so genannte Schlepperei deshalb in den Herkunfts- und auch Transitländern zu einer lebensnotwendigen Dienstleistung geworden; kaum ein Flüchtling, der Europa erreicht, hat nicht auf sie zurückgegriffen. Je professioneller und internationaler diese Organisationen agieren, desto besser können sie die Sicherheit ihrer Kunden garantieren. Erst die »menschenverachtende Mafia« ermöglicht also Zehntausenden eine erfolgreiche Flucht. Und ähnlich wie im Flugverkehr spricht später niemand von den geglückten Aktionen, sondern nur von den Katastrophen.

Dass das boomende Fluchthelfer-Geschäft nur eine Folge der europäischen Abschottungspolitik ist, wird bewusst ausgeblendet, wenn Politiker einhellig

die Unmenschlichkeit der »kriminellen Schleusermafia« verteufeln und diese mit Worten und Bildern belegen, die bisher Drogenhändlern und der »Russenmafia« vorbehalten blieben. So auch jetzt nach der Tragödie von Dover: Da wird ein holländischer Kleinunternehmer verhaftet, der angeblich in Spielschulden steckt, da ist die Rede von einer hochkriminellen chinesischen Organisation mit dem Furcht einflößenden Namen »Schlangenkopf«.

Letztlich zeigen solche Reaktionen, wie gut die Konstruktion des Feindbildes Schlepperbanden seine Funktion inzwischen erfüllt: die alltägliche Realität an den Außengrenzen und in Abschiebe-Haftanstalten Europas wird schlicht ausgeblendet. Allein die Fluchthelfer sind, so will man glauben machen, für die toten Chinesen und gleich noch insgesamt für den Zuzug illegaler »Flüchtlingsströme« verantwortlich. Ursache und Wirkung werden vertauscht.

So erklärte etwa die für Einwanderungsfragen zuständige Europa-Abgeordnete Sabina Mazzi, es seien nicht etwa unerträgliche politische oder ökonomische Umstände, die immer mehr Menschen zur Flucht zwängen. Vielmehr überredeten »skrupellose Mafia-Banden Flüchtlingskandidaten, sich auf teure und gefährliche Abenteuer einzulassen.« Folgerichtig sei der Sinn der neuen EU-Aktionspläne, die Menschen in den Herkunftsländern »vor kriminellen Schleppern zu warnen.«

Man ist sich also einig über eine zukünftige Vorgehensweise, die auch angesichts der Toten von Dover keinesfalls in Frage gestellt wird: kriminelle Schlepper, die für horrende Summen kaltblütig das Leben »illegaler« Flüchtlinge riskieren, müssen noch härter und effektiver bekämpft werden. Noch mehr Gelder werden für Grenzsicherung, Infrarotkameras und Kohlendioxid-Spürgeräte zur Verfügung gestellt.

Die Folge: Immer mehr Flüchtlinge müssen an ungewöhnlichen Plätzen versteckt werden, noch mehr Menschen werden sterben. Denn je anspruchsvoller die Planung und Umsetzung einer Flucht wird, desto teurer wird sie auch. Die immensen Kosten einer sicheren Flucht können nur die wenigsten aufbringen. Jeder neuen Maßnahme der EU werden daher weitere Tote folgen. Und auf diese toten Flüchtlinge wird die EU erneut mit weiteren Verschärfungen ihrer Grenzkontrollen reagieren.