Tarif-Abschluss der Chemie-Gewerkschaft

Mission erfüllt

Wieder einmal ist die Zeit reif - und der Aufschwung in Gefahr: In der Nacht vom Dienstag, 21. März, auf Mittwoch, 22. März, lief in der Metall- und Elektroindustrie die Friedenspflicht aus. Mit Aktionen während der Nachtschichten will die IG Metall nun deutlich machen, dass ihre Mitglieder bereit sind, für die so genannte Beschäftigungsbrücke notfalls auch zu streiken. Lenken die Arbeitgeber dann mit der ersten Warnstreik-Welle nicht ein, wird nach Ostern zur Urabstimmung gerufen. Pflichtgemäß wird das Gekreische groß sein. »IG Metall-Chef Klaus Zwickel lässt den gerade begonnenen Aufschwung kaputt streiken und bringt das Bündnis für Arbeit zum Platzen«, wird es aus der Gesamtmetall-Zentrale in Köln und aus dem Berliner Bundeskanzleramt schallen.

Gerhard Schröder kann sich dann vom Chef der Chemie-Gewerkschaft, Hubertus Schmoldt, trösten lassen. »Der Lieblingsgewerkschafter des Bundeskanzlers hat seine Mission wieder einmal vorbildlich erfüllt.« So steht es im neuen Zentralorgan des Kapitals, in der Financial Times Deutschland (FTD). Mit etwas Kosmetik am gesetzlichen Vorruhestand, dem Einstieg in die private Altersvorsorge, einer Lohnerhöhung von 2,2 Prozent ab 1. Juni und zwei weiteren Prozent im nächsten Jahr sowie einer Laufzeit von 21 Monaten ist die IG Bergbau, Chemie, Energie (BCE) in der diesjährigen Tarif-Runde vorgeprescht und hat den ersten Abschluss auf den Tisch gelegt. Und das ohne jede Not, schließlich läuft der Tarif-Vertrag erst Ende Mai aus. Die wackeren Schreiber der FTD analysierten den Chemie-Abschluss auf ihre Weise: »Das ist schlecht für die IG Metall, gut für den Kanzler - und hervorragend für die deutsche Wirtschaft.«

Ganz anders sieht es die Frankfurter Rundschau: »Es geht den Tarifvertragsparteien immer weniger darum, die Beschäftigten an den eigentlich nicht zu knappen Gewinnen der Branche mit Heller und Pfennig zu beteiligen.« Tatsächlich liegt die eigentliche Bedeutung dieses ersten Tarif-Abschlusses in der endgültigen Abkehr von der traditionellen Lohnpolitik, in der es im Grunde um die Balance zwischen Kapital und Arbeit ging. Der Chemie-Abschluss ist ein Indiz dafür, dass Tarif-Politik immer mehr zur betrieblichen und branchenbezogenen Sozialpolitik verkommt. Was der Staat also auf Grund vermeintlich leerer Kassen nicht mehr im Stande ist zu leisten, wird den Tarif-Parteien aufgebrummt. So gesehen, ist auch Zwickels Beschäftigungsbrücke - die Tarif-Rente mit 60 - nichts anderes als der Versuch eines Gewerkschafters, für die versagende Arbeitsmarkt- und RentenPolitik in die Bresche zu springen.

Weil sich wegen der Rentenabschläge kaum noch jemand den früheren Ausstieg aus dem Arbeitsleben leisten kann und zudem die Arbeit von immer weniger Menschen getan wird, betätigen sich die Gewerkschaften als Liberos von Politik und Wirtschaft. Dabei ist der Zwickel-Ansatz ein etwas anderer als der von Schmoldt, denn in der chemischen Industrie muss der Arbeitsplatz eines ausscheidenden Älteren nicht von einem Jüngeren besetzt werden. Und genau das will die IG Metall: Einen tarifvertraglichen Anspruch auf diesen Arbeitsplatz. Nahe liegend, dass sich hier Gesamtmetall verweigert.

Früher war der Staat für die Sozialpolitik zuständig, die Unternehmer für die Arbeitsplätze und die Gewerkschaften sorgten für materielle Partizipation. Diese Zeiten sind vorbei. Die BCE hat jetzt vorgemacht, was man unter der im Bündnis für Arbeit vereinbarten »beschäftigungsorientierten Tarif-Politik« versteht: Der Gesetzgeber steckt dabei lediglich noch den Rahmen ab, in dem sich die Tarif-Parteien bewegen dürfen. Die Tarif-Autonomie hat sich damit abgemeldet.