Neue Offenheit

Trotz Mobbing am Arbeitsplatz: Helmut Kohl kämpft weiter erfolgreich gegen den Rest der Union.

Manche schrecken einfach vor nichts zurück. Die Welt am Sonntag zum Beispiel. »Ist Schweigen wirklich Gold?« wollte die Zeitung wissen und brachte ausgerechnet Niccol˜ Machiavelli gegen den gebeutelten Ehrenmann Helmut Kohl in Anschlag.

»Ein kluger Herrscher kann und darf sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Schaden gereicht und die Gründe hinfällig geworden sind, die ihn veranlasst hatten, sein Wort zu geben«, erläuterte der italienische Denker im alten Florenz seine Vorstellungen von Aufrichtigkeit im politischen Geschäft. Machiavellis Empfehlung an die Nachgeborenen: »Wären alle Menschen gut, so wäre dieser Rat schlecht; da sie aber schlecht sind und ihr Wort dir gegenüber auch brechen würden, brauchst auch du es ihnen gegenüber nicht zu halten.«

Ja, genau, so skrupellos ist Politik. In Machiavellis feudaler Florentiner Gesellschaft, und eben auch im spätkapitalistischen Deutschland. Nur wenige wagen es, sich diesen Maßgaben zu entziehen. Und was dem passiert, der doch mal zwischendurch ausschert, bekommt derzeit der langjährige CDU-Chef und Alt-Bundeskanzler Kohl zu spüren.

Mal ehrlich: Dieser Auftritt beim Neujahrsempfang der Bremer CDU am vergangenen Donnerstag. Ergreifend. »Ich halte dieses gegebene Wort.« Beifall, Begeisterung unter den rund 4 000 Gästen im Park-Hotel der Hansestadt. Nein, Kohl verpfeift seine alten Gewährsleute nicht. Und bleibt trotzdem dabei: »Es gibt diese Spender.« Natürlich. Ein Ehrenmann, auch wenn alle Welt weiß, dass es längst nicht mehr um die Frage geht, woher die schwarzen Millionen nun genau kamen.

Aber Undank ist der Welten Lohn. Drohende Parteiausschluss-Verfahren, öffentliche Denunziation, Mobbing am Arbeitsplatz, ja sogar mit einem gefälschten Fax wollte man dem gestürzten Ehrenvorsitzenden ans Leder. Freilich: Spätestens sein eindrucksvoller Abgang, mit dem er Gerhard Schröder den Kanzler-Sessel freigemacht hatte, hat Kohls Aufrichtigkeit und Standfestigkeit bewiesen.

Zurück nach Italien. »Uomo d'onore« nennt man dort gemeinhin solche Ehrenmänner und denkt selbstverständlich sofort an die honorige Gesellschaft der neapolitanischen Unterwelt. Wer sich anschickt, hier zu trennen, was zusammengehört, kann gleich heimgehen. Oder zurücktreten. Politik, Wirtschaft, Korruption und Lüge bleiben die Einheit, die sie schon immer gewesen waren. Was wirklich zählt, ist der gute Ton.

Anders in Deutschland: Als herrsche, jenseits realer Macht- und Eigentumsverhältnisse, im Apparat eine »saubere« Form des Umgangs, als werde Ehrlichkeit ernsthaft als vorteilhafte Tugend honoriert, als würden nicht Konkurrenz, Misstrauen und Betrug selbst die kleinsten Zellen des Privatlebens durchdringen, klagen Linke, Liberale und Konservative derzeit Redlichkeit und Rechtsstaatlichkeit ein.

Beispielsweise Oskar Negt, Politikwissenschaftler und SPD-Wahlkampfhelfer. Mit dem CDU-Skandal sei das Gemeinwesen »zum Beutegut betriebswirtschaftlicher Kalkulation geworden«, bedauert der Professor in der Berliner Wochenzeitung Freitag. War das deutsche »Gemeinwesen« etwa bislang eine mehr oder weniger karitative Einrichtung? Wer die Regeln seiner Überlebenspraxis nicht am Ergattern von Vorteilen orientiere und den Rechtsbruch ausschließe, gelte als dumm, schimpft Negt und beklagt den moralischen Verfall eines ganzen Systems.

Andersrum wird ein Schuh draus. Weil die jetzt bekannt gewordenen illegalen Geldgeschäfte die Absurdität des herrschenden Moralverständnisses so unübersehbar zur Schau stellen, gilt es nun, moralische Prinzipien den realen Verhältnissen anzupassen. Wäre nicht zu befürchten, dass sich unter den heutigen Umständen das sozialdarwinistische Prinzip des Stärkeren durchsetzt, man müsste Leuten wie Wolfgang Schäuble und Manfred Kanther geradezu dankbar sein.

Da haben radikale Linke Schwarzfahren, Ladendiebstahl und Bankraub als legitime Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums gepredigt, haben Krankfeiern und sozialamtliche Alimentierung als berechtigte Aneignung propagiert, und kaum einen hat's interessiert. Den Korrupten von der Union dagegen gelang der Coup quasi über Nacht: Sie haben den Definitionen von »Kriminalität« und »Delinquenz«, der nach materiellen Aspekten betrachtet sowieso die Legitimation fehlt, auch noch die moralische Grundlage entzogen.

Nehmen wir etwa Manfred Kanther. Manfred Kanther ist kein Ehrenmann. Eher ein Unsympath. Wie kein anderer stand der ehemalige Bundesinnenminister für Autorität, Gehorsam, Pflichterfüllung. Die Stichworte: Geldwäschegesetz, Korruptionsbekämpfungsgesetz und Lauschangriff. »Die Bekämpfung des Verbrechens« war ihm immer »eine Stärke von CDU und CSU, und zwar durch praktische Arbeit«.

Und nun? Durch praktische Arbeit ruiniert. Der Kämpfer gegen die organisierte Kriminalität war, rechnet man Regierungskriminalität zu den eher organisierteren, selbst ins gemeine Verbrechen verstrickt. Dass unter seinem Vorsitz einige Millionen Mark Schwarzgelder auf Schweizer Konten geschoben worden waren, auf die er auch noch Zugriff hatte, passt kaum ins Bild des deutschen Saubermanns.

Die Konsequenzen sind fatal: Das Bundestagsmandat ist flöten gegangen, und selbst im eigenen Zirkel ist er zur Persona non grata verkommen. Der Brandenburger CDU-Innenminister Jörg Schönbohm, Kanthers hauptsstadterfahrene Doublette, trampelte auf dem Hessen herum. Schließlich galt es, ehrlichen Autoritarismus gegen Korruption hochzuhalten.

Ähnliche Gründe dürften auch die Redakteure der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dazu gebracht haben, ihren konfrontativen Kurs gegen die Union noch zu verschärfen, nachdem die Geldgeschäfte der hessischen Union ans Tageslicht gekommen waren. Die Blattmacher, die Kanther bislang immer das Händchen gehalten haben, werfen ihm nun »dreiste Lügerei« vor und sehen die »bürgerliche Mitte dieser Republik ihrer politischen Heimat beraubt«.

Was Sozialdemokraten wie Negt das abhanden gekommene »Gemeinwesen«, ist den Frankfurtern der Zusammenbruch des konservativen Wertgebildes. Wie tief man sich in den Redaktionsräumen im Gallus-Viertel von der neuen Offenheit der Union getroffen fühlt, verraten die Bilder, die sich Mitherausgeber Berthold Kohler vergangene Woche zu Nutze machte: »Auf dem Friedhof der Parteivergangenheit stieß man knapp unter der Oberfläche auf ein Massengrab, und immer mehr Angehörige des Führungskreises der Partei mussten bekennen, von diesen Leichen gewusst oder sie gar selbst unter die Erde gebracht zu haben.«

Heavy Stuff. Die Konservativen treibt die Angst vor dem ideologischen Zerfall der Union um, wohl wissend, dass damit das gesamte System des autoritären Parteienstaates in Frage gestellt würde. Der aber ist kaum ohne jene korrupte Verbindung von Politik und Kapital zu haben, mit der sie jetzt so heftig ins Gericht gehen. Und schon gar nicht mehr mit einer konservativen Moral, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit hat.

Nun ausgerechnet dem Ehrenmann Kohl nahezulegen, Aussagen zu machen, gehört zu den perfidesten Versuchen, Wertvorstellungen zu retten, die sich als schlichte Lebenslügen offenbart haben. Aber bislang haben die Karrieristen von der Union ebenso wie die FAZ-Redakteure ohnehin schlechte Karten. Alt-Kanzler Kohl lässt sich vom alten Machiavelli nicht beeindrucken und hält es eher mit den spanischen Jesuitenprediger Baltasar Gracián y Morales: »Behutsames Schweigen ist das Heiligtum der Klugheit.« Oder, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben: »Helmut und Hannelore halten's Maul.«