Der große Moderator

Renten-Deal gescheitert, Niedriglöhne durchgesetzt: Mit einem letzten Treffen will Schröder nun das Bündnis für Arbeit ins nächste Millennium retten.

Alles war so gut gelaufen: 86,3 Prozent der SPD-Delegierten wollten den Kanzler weiterhin als obersten deutschen Sozialdemokraten sehen, Kontrahent Rudolf Scharping musste sich dagegen mit einem deutlich schlechteren Ergebnis zufriedengeben. Und auch die Parteilinken machten beim Berliner Parteitag keinen Ärger, obwohl der Chef seinem Modernisierungskurs treu geblieben war.

Gerhard Schröder hätte somit über den Verlauf der vergangenen Woche überaus zufrieden sein können. Zumal sich seine Holzmann-Intervention noch nicht als Luftnummer enttarnt hatte, während Helmut Kohls Schwarz-Konten schlechte Schlagzeilen für die Union schrieb. Sollte der Strahlemann also tatsächlich als glücklicher Sieger ins neue Millennium schreiten - Seit' an Seit' mit Partei, Proleten und Kapital?

Nicht so richtig. Mit dem Scheitern des vierten Treffens im Bündnis für Arbeit war die Hoffnung auf eine Vorweihnachtszeit in Selbstzufriedenheit vorerst dahin. Die entsprechenden Signale waren bereits vorher gesetzt: Zuviel Moderation, zu wenig Einsatz für die Sache, hatte ihm Gesamtmetall-Präsident Werner Stumpfe vorgeworfen, das Handelsblatt schrieb abfällig über »Schröders Talkrunde«.

Sollte nun nicht bei den auf den 23. Dezember vertagten Verhandlungen wider Erwarten eine Einigung gefunden werden, sieht es schlecht aus um den großen Moderator. Und um das Bild des neu aufgewärmten deutschen Kooperatismus. Denn dann würde das Bündnis tatsächlich, wie der Spiegel vergangene Woche schrieb, zum »Symbol für die verhängnisvolle Lähmung der deutschen Konsensgesellschaft« verkommen.

Freilich war beim Treffen am vergangenen Sonntag gar nichts anderes zu erwarten. Unmittelbar vor den Verhandlungen bekräftigte IG-Metall-Vize Jürgen Peters seine Entschlossenheit, bei den Gesprächen auf die Durchsetzung der »Rente mit 60« zu drängen. Sollten die Unternehmer darüber nicht mit sich reden lassen, kündigte er vorsorglich für die Tarifverhandlungen 2000 eine harte Lohn- und Gehaltsrunde an. Von Schröder erhoffte sich Peters eindeutige Signale: »Ich erwarte vom Bundeskanzler am Sonntag eine Erklärung, dass er dieses Projekt für sinnvoll hält und zusagt, die Zugangsvoraussetzungen entsprechend zu verändern.«

Schröder hielt sich bedeckt. Und mit ihm sein Arbeitsminister Walter Riester. Ein »Popanz« sei da aufgebaut worden, ließ der Ex-IG-Metall-Vize wissen. Noch zu Beginn der Amtszeit hatte sich der Sozialdemokrat hinter seinen Metallerkollegen Klaus Zwickel gestellt und die Rente mit 60 als Vorschlag begrüßt, um mit »tariflichen Mitteln ergänzende Möglichkeiten« zum Vorruhestand aufzubauen. Für den vergangenen Sonntag erhoffte sich Riester gerade noch eine Klärung darüber, »ob und in welcher Form die Tarifvertragsparteien vorhaben, eine solche tarifliche Lösung anzugehen«.

Dabei hatte Peters sogar angekündigt, dass »ein Teil der Lohnerhöhungen durchaus zur Umverteilung von Arbeit genutzt« werden könnte. Sollte heißen: Für die Einführung der »Rente ab 60« verzichtet man gerne auf die eine oder andere Mark am Monatsende. Zudem sollten Arbeiter und Unternehmer künftig 0,5 Prozent des jährlichen Lohnzuwachses in einen Fonds einzahlen, durch den eine abzugsfreie Rente ab 60 finanziert werden soll. Wird ein freiwerdender Arbeitsplatz nicht besetzt, müssten die Unternehmer für die Differenz aufkommen.

»Ein Job-Vernichtungsprogramm«, fand Klaus F. Zimmermann, der neue Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), das bisher als letzte Bastion einer gewerkschaftsfreundlichen und nachfrageorientierten Politik galt. Zimmermann, der derzeit für wirtschaftsliberalen Wind in der Forschungsstelle sorgt, steht jedoch im eigenen Lager nicht allein. Selbst beim IG-Metall-Gewerkschaftstag war die Rente ab 60 umstritten. Die Einführung der Tariffonds, so kritisierten die Metaller Anfang Oktober in Hamburg, sei der Ausstieg aus der solidarisch finanzierten Rente. So weit wollte Wirtschaftsforscher Zimmermann nicht gehen: »Wenn sich die Gewerkschaften im Gegenzug beachtliche Lohnzugeständnisse abhandeln ließen«, könne man über die Forderung reden.

Die andere Seite wollte nicht reden. Es wäre denkbar, schlug Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt vor, einen Teil des Weihnachtsgeldes und des Urlaubsgeldes sowie die Überstundenzuschläge für eine Betriebsrente anzusparen. Einen einklagbaren Rechtsanspruch lehnte Hundt, der im Unternehmerlager als moderat gilt, aber ab. Solche Regelungen zur Altersteilzeit könnten nur freiwillig und auf betrieblicher Ebene stattfinden.

Und nun, wo »ideologische Hemmnisse«, wie Dieter Schulte fand, ein Weiterkommen blockiert? Der DGB-Chef blieb jedenfalls auch nach den Gesprächen dabei: »Moderate Abschlüsse wird es ohne unser Vorruhestands-Modell nicht geben.« Aber so war die Ehrenrettung des Rheinischen Kapitalismus mit Hilfe des Bündnisses für Arbeit dann doch nicht gedacht. Es könne schließlich nicht angehen, erklärte Riester-Berater Bert Rürup, »dass die Menschen immer älter und die Belegschaft gleichzeitig immer jünger wird«. Sprich: Wer länger lebt, soll gefälligst auch länger ackern.

So sehen das auch die Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck und Rolf Heinze von der Benchmarking-Gruppe, dem wichtigsten Gremium im Bündnis für Arbeit. »Die durch Beiträge finanzierten umfangreichen Frühverrentungen haben die Lohnnebenkosten erhöht und damit die Beschäftigungskrise, die sie lösen sollten, langfristig verschärft«, schrieben die beiden im Frühjahr in ihrem Plädoyer für eine »radikale Wende« in der Beschäftigungspolitik. Neben einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit und dem Abschied vom Sozialstaatsgedanken wird dort auch der Einführung von Niedriglohnsektoren das Wort geredet.

Dem wollte sich auch Gewerkschafter Schulte nicht verschließen. Was mancherorts längst Praxis ist, wurde nun via Bündnis für Arbeit zum bundesweiten Gesamtkonzept erhoben: Die Gesprächspartner beschlossen, zwei bereits entwickelte Modelle für drei Jahre als Versuchsprojekt in jeweils einem alten und einem neuen Bundesland umzusetzen. Künftig müssen dort nun Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger damit rechnen, zur Entlastung unternehmerischer Kassen in Billiglohn-Verhältnisse getrieben zu werden.

Das saarländische Modell sieht vor, dass der Staat bei einem Monatseinkommen von bis zu 1 250 Mark sämtliche, bis 2 500 Mark einen Teil der Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitnehmer und -geber übernimmt. Im Mainzer Modell werden nur die Sozialabgaben des Beschäftigten subventioniert. Ähnliche Projekte laufen derzeit schon in mehreren Bundesländern: So etwa in Baden-Württemberg, wo unter der Chiffre »Einstiegsgeld« die Freibeträge für die Sozialhilfe erhöht werden, wenn Stütze-Empfänger Arbeit aufnehmen. Auch der langdiskutierte Kombi-Lohn zählt zu dieser Kategorie.

Schultes Kollegin, die stellvertretende DGB-Chefin Ursula Engelen-Kefer, wollte in diesen Modellen letzte Woche keinen »generellen Sinneswandel zugunsten eines Niedriglohnsektors« erkennen. Tatsächlich wird aber genau die Konzeption umgesetzt, mit der Streeck und Heinze hausieren gehen: Nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeit soll bezahlt werden - finanziert, so die Idee der beiden Wissenschaftler, durch Einsparungen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Wer also heute noch auf eine halbwegs bezahlte ABM-Stelle setzen kann, könnte sich morgen schon als Niedriglöhner wiederfinden, entsprechende Sanktionen bei Ablehnung freilich inbegriffen.

Solange es um Geringqualifizierte, und nicht um die Gewerkschaftsklientel Facharbeiter geht, sind »moderate Lohnabschlüsse« für einen DGB-Chef Schulte auch ohne Gegenleistung denkbar. Schließlich, so rechnet das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vor, könnten so drei bis vier Millionen Jobs im Dienstleistungssektor aufgetan werden. Und für Arbeit im Standort ist der Gewerkschafter freilich immer zu haben.

Fehlte nicht die entsprechende Inszenierung des deutschen Kooperatismus, Moderator Schröder könnte zufrieden sein. Zumal die Berliner Koalitionäre unter seiner Führung letzte Woche bewiesen, dass es auch ohne formelle Treffen geht: Entgegen bisher geplanten acht Milliarden Mark sollen nach dem Willen der Bundesregierung von 2001 an die Unternehmen um lockere 20 Milliarden jährlich entlastet werden. Ein wegweisender Beschluss, ganz ohne »Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit«.