Jelzin siegt am Bosporus

Auf ihrer Konferenz in Istanbul einigten sich die OSZE-Staaten auf eine neue Sicherheitscharta, die Sezessionisten von Vancouver bis Wladiwostok größere Autonomie-Rechte einräumt. Für die Islamisten in Tschetschenien gilt das vorerst nicht.

Gedroht hatten sie alle damit, wirklich ernst jedoch machte nur ein Staatschef. Lennart Meri, Präsident der Baltikum-Republik Estland, sagte seine Teilnahme an der Konferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in letzter Minute ab. Grund für den Boykott des am Wochenende zu Ende gegangenen Treffens in Istanbul: das militärische Vorgehen Russlands in seiner Kaukasus-Republik Tschetschenien.

Meri konnte es sich leisten, zu Hause zu bleiben. Im Gegensatz zu den 54 anderen OSZE-Staatschefs, die letzte Woche in die Türkei reisten, um sich dort den Kopf zu zerbrechen über eine diplomatische Formel zum russischen Feldzug in Tschetschenien, ohne den Gipfelteilnehmer Russland zu brüskieren, ist sein Verhältnis zu Moskau seit Anfang der neunziger Jahre geklärt.

Nicht zuletzt wegen der besonderen Beziehungen Estlands zu Tschetschenien: So war der spätere tschetschenische Rebellenführer Dschochar Dudajew 1991 als sowjetischer Kommandeur im estnischen Tartu stationiert - und verweigerte damals den Befehl der Moskauer Zentralregierung zur Niederschlagung der estnischen Sezessions-Bewegung. Seitdem wird der während des ersten Tschetschenien-Krieges 1996 gestorbene Dudajew in Estland verehrt wie kaum ein anderer. Was auch die Solidarität des estnischen Präsidenten mit den islamistischen Kaukakus-Sezessionisten erklären dürfte. Die angestrebte oder verwirklichte Loslösung von Moskau verbindet: Es könne nicht sein, begründete Meri sein Fernbleiben von der Istanbuler Konferenz, dass die OSZE tatenlos zusehe, während im Kaukasus Tausende von Menschen von russischen Soldaten umgebracht würden.

So leicht wie Meri jedoch konnten es sich die meisten der 54 Staatschefs nicht machen. Insbesondere die Führer der Nato-Staaten, die im Frühjahr Jugoslawien bombardieren ließen, kamen um Zurückhaltung gegenüber dem russischen Vorgehen in Tschetschenien nicht herum. Was zum einen daran lag, dass nicht der als Hardliner geltende russische Ministerpräsident Wladimir Putin nach Istanbul gereist war, sondern Jelzin, der weiter von seinem verblichenen Ruhm als Hoffnungsträger des Westens zehren kann. Darüber hinaus standen in Istanbul wichtige Verträge auf dem Programm, die ohne die russischen Unterschriften nicht zu Stande gekommen wären.

Doch platzen lassen wollte "den letzten großen Gipfel des 20. Jahrhunderts" weder der US-amerikanische Präsident William Clinton noch die Regierungschefs der Europäischen Union (EU). Dementsprechend zurückhaltend fiel der bis Konferenz-Ende umstrittene Punkt 23 der Abschluss-Erklärung zum Tschetschenien-Krieg aus. "Wir sind uns einig, dass eine politische Lösung von zentraler Bedeutung ist und dass die Hilfe der OSZE dazu beitragen würde, dieses Ziel zu erreichen", lautete am Ende des zweitägigen Gipfels der Kompromiss, den die Außenminister der USA, Großbritanniens, Deutschlands, Frankreichs und Italiens ihrem russischen Kollegen Igor Iwanow abtrotzen konnten.

Von der vom deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder im Vorfeld des Gipfels geforderten klaren Verurteilung des russischen Vorgehen in Tschetschenien fand sich in der so genannten Istanbuler Erklärung keine Spur. Im Gegenteil. Aus Sorge um die russischen Unterschriften stand am Schluss einmal mehr die Formel vom berechtigten Interesse Russlands am Erhalt des Gesamtstaates, die die Nato-Staaten für das Vorgehen des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic in der serbischen Provinz Kosovo nicht gelten lassen wollten: "Mit Blick auf die jüngsten Ereignisse im Nord-Kaukasus bekräftigen wir nachdrücklich, dass wir die territoriale Integrität der Russischen Föderation voll und ganz anerkennen und Terrorismus in all seinen Formen verurteilen."

Wie lange die westlichen Staaten diese Formel noch gelten lassen werden, ist allerdings fraglich. Denn im wichtigsten der drei von den Gipfel-Teilnehmern unterzeichneten Verträgen stellt die OSZE das Prinzip der territorialen Integrität erstmals in Frage. So bekräftigt die in Istanbul verabschiedete "Charta für Europäische Sicherheit" nicht nur die Grundsätze und Verpflichtungen der Helsinki-Schlussakte von 1975, sondern baut das OSZE-Konzept kooperativer Sicherheit um einen entscheidenden Punkt aus: Lokale Konflikte werden in der Charta in den Vordergrund gerückt und "eklatante Verletzungen der OSZE-Normen und -Prinzipien innerhalb von Landesgrenzen" angeprangert.

Verschiedene Formen der Autonomie listet der Vertrag nun auf, die die "ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität" von Minderheiten fördern könnten - und das Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten zumindest aufweichen. Zum Ärger Moskaus, das der Charta am Ende zwar zustimmte, aber fürchtet, dass damit der "jugoslawische Fall" zur Norm erhoben werden könnte - und das Eingreifen auswärtiger Staaten bei kriegerischen Auseinandersetzungen wie in Tschetschenien künftig legitimiert.

Dabei war die Sicherheits-Charta ursprünglich eine russische Idee gewesen: Immer wieder hatte Moskau in der Vergangenheit darauf gedrängt, der OSZE die Schlüsselrolle bei der Konfliktsteuerung in Europa zuzugestehen. Um die von den USA dominierte Nato durch ein rein europäisches Instrument abzulösen, sollte der OSZE in Fragen der europäischen Sicherheit die Oberhoheit über alle anderen internationalen und supranationalen Organisationen zugestanden werden. Mit der in der Charta vereinbarten Schaffung eines Operationszentrums zur Konfliktverhinderung und eines damit verbundenen Organs namens Rapid Expert Assistance and Cooperation Teams (React) versuchten die Gipfel-Teilnehmer auch eine Stärkung der Institution in diese Richtung. Die Ergänzung der Charta um die Autonomie-Rechte nationaler Minderheiten wird von Russland aber als Angriff gewertet.

Nicht verwunderlich, dass der russische Außenminister unmittelbar nach Ende des Gipfels die gerade vereinbarte Rückkehr von OSZE-Beobachtern in die Konflikt-Region ablehnte. Gerne könnte die Organisation Tschetschenien auf humanitärer Ebene behilflich sein, auf politische Hilfe sei Moskau nicht angewiesen: "Wir haben keine Vermittlungsbemühungen akzeptiert und beabsichtigen auch nicht, das zu tun", behielt Iwanow das letzte Wort.

Und auch beim zweiten wichtigen Abkommen, dem modizifierten Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), konnte sich Russland noch einmal als Sieger fühlen. Der nach dreijährigenVerhandlungen in Istanbul unterzeichnete Vertrag legte neue nationale und territoriale Obergrenzen für schwere Waffen und Geräte fest, die durch den russischen Aufmarsch in Tschetschenien eigentlich längst überschritten wären. Doch auch hier drückte der Westen ein Auge zu: Nicht nur der Gastgeber Türkei, dem für die kurdischen Gebiete an der Grenze zu Syrien keine Grenzen auferlegt wurden, erhielt die großzüge Unterstützung der OSZE. Auch für Tschetschenien gelten die Kriterien vorerst nicht.

Was nichts daran ändert, dass die russischen Delegierten Istanbul am Ende doch als Verlierer verließen. Denn die wichtigsten Unterschriften des Gipfels wurden nicht im OSZE-Konferenzsaal getätigt, sondern ein paar Gebäude weiter. Ohne russische Beteiligung. So kamen am Freitag US-Präsident Clinton, der türkische Präsident Süleyman Demirel und seine Kollegen aus Aserbaidschan und Georgien, Hajdar Alijew und Eduard Schewardnadse zusammen. Bescheidener Grund für die Zusammenkunft am Rande des Gipfels: die Unterzeichnung eines Vertrags über den Bau einer Ölpipeline von Baku in Aserbeidschan bis zum türkischen Mittelmeerhafen sowie den Bau einer transkaspischen Gaspipeline von Turkmenistan in die Türkei.

Die Zurückhaltung gegenüber dem russischen Vorgehen in Tschetschenien auf dem OSZE-Gipfel hatte sich damit zumindest für Clinton gelohnt. "Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass die Verträge von Istanbul für Russland eine große politische, strategische und wirtschaftliche Niederlage bedeuten", kommentierte am Wochenende denn auch die Frankfurter Allgemeine. Die USA hätten deutlich gemacht, "dass sie im Kaukasus ihre Interessen ebenfalls durchsetzen können- effizienter sogar, nämlich nicht mit der rohen Gewalt der Waffen, sondern durch die sanfte Überzeugungskraft des Geldes". Derweil können die EU-Regierungschefs weiter darauf hoffen, dass die OSZE eines Tages vielleicht doch noch zum europäischen Gegengewicht der USA wird.