Accelerando bei ver.di

Fusionen und feindliche Übernahmen: Fünf Gewerkschaftsverbände wollen sich zusammenschließen, und damit nachvollziehen, was in der Wirtschaft längst gang und gäbe ist.

Für die einen ist sie eine missratene Kopfgeburt, für die anderen eine Gewerkschaft der Superlative: Im Februar 2001 wird die "Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft" - kurz ver.di genannt - ins Leben gerufen. Einzig zum Zwecke der Gründungsvorbereitung versammelten sich in der vergangenen Woche 1 950 Delegierte aus fünf Gewerkschaften und berieten an fünf verschiedenen Orten etwa 1 700 Anträge zur Struktur der künftigen Organisation. Die ver.di soll aus der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Postgewerkschaft (DPG), Handel, Banken und Versicherungen (HBV), IG Medien und Deutscher Angestelltengewerkschaft (DAG) hervorgehen.

Nach dem heutigem Stand würde sie 3,2 Millionen Mitglieder organisieren und damit die IG Metall mit ihren 2,7 Millionen Mitgliedern als bislang "größte Einzelgewerkschaft der Welt" auf den zweiten Platz verdrängen.

Zweifellos eine kleine Sensation ist es, dass sich die nicht dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) angehörige DAG an der Vereinigung beteiligt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verstieß die DAG in der Reorganisationsphase der Arbeitervertretungen gegen das Prinzip "Ein Betrieb - eine Gewerkschaft". Als Standesorganisation für Angestellte gründete sie sich quer zu den nach Branchen und Industriegruppen gegliederten DGB-Verbänden. Somit durchbrachen die Funktionäre des "White-Collar-Proletariats" den gewerkschaftlichen Einheitsgedanken, wie er nach den Erfahrungen mit dem Faschismus formuliert worden war.

Besonders in den Bereichen Banken und Handel, aber auch in Betrieben mit hohem Angestelltenanteil lieferten sich DGB-Verbände und DAG mitunter heftige Gefechte um Mitglieder und Tarifabschlüsse. Die DAG galt als sozialpartnerschaftliche Organisation, die den Arbeitgebern durch Nachgiebigkeit oft noch größere Schritte entgegen kam als der DGB. Hier setzt auch eine Kritik vieler ver.di-Skeptiker an: Wie soll man morgen mit den Funktionären der DAG klar kommen, die einem gestern noch in den Rücken fielen? Man müsse sich von alten Feindbildern verabschieden können, reagieren darauf die Befürworter.

Viele weitere Fragen bleiben bislang unbeantwortet: Wie soll das politische Profil der ver.di ausschauen? Wer bestimmt die Tarifpolitik? Wie funktioniert die innerorganisatorische Demokratie? Eines jedenfalls ist klar: "Das Gebilde", wie die ver.di gelegentlich auch genannt wird, soll eine Doppelstruktur bekommen. Der horizontale Aufbau soll nach Bezirken, Regionen und dem Bund gegliedert sein und die Gesamtorganisation abbilden. Innerhalb dieser Gesamtorganisation soll sich eine vertikale Ebene mit 13 autonomen Fachbereichen bilden. Unterhalb der Fachbereiche können sich die Mitglieder dann in Fachgruppen zusammenschließen. Wer allerdings nach diesem Modell das Sagen hat, ist bislang umstritten: Gesamtorganisation oder Fachbereiche. Besonders hauptamtliche Funktionäre der ÖTV favorisieren eine starke und geschlossene Gesamtorganisation. In den Fachbereichen sehen sie ein notwendiges Übel, um der Basis eine Spielwiese zu geben. Innerhalb der anderen Gewerkschaften wird der Fachbereichslösung mit hoher Eigenständigkeit den Vorzug gegeben.

Bis zum nächsten Sommer soll diese Frage gelöst werden. Für die Tonart hat die ÖTV vergangene Woche auf ihrem Kongress in Dortmund gesorgt. Die "gewerkschaftliche Musik" werde, so wurde dort beschlossen, auf der horizontalen Ebene gespielt, sprich: Die Fachbereiche sollen klein gehalten werden. Die vier anderen Gewerkschaften wiederum bekräftigten auf ihren Konferenzen ihre Zustimmung zum vertikalen Aufbau. Den Fachbereichen wollen sie personelle, finanzielle und tarifpolitische Autonomie einräumen. IG Medien-Chef Detlef Hensche bezeichnete denn auch in Kassel den ÖTV-Beschluss als "Ärgernis", das das Zusammenwachsen nicht einfacher mache. Ungelöst ist auch die Frage, wo die neue Organisation ihren Sitz haben soll. Von DAG, HBV und ÖTV wird Berlin gewünscht, die IG Medien hingegen plädiert für dezentrale Verwaltungseinheiten. Auch an diesem Problem kamen die Kongresse der vergangenen Woche nicht vorbei: So gab es dort Demonstrationen der Beschäftigten der Hauptverwaltungen, die sich für den Verbleib am Arbeitsplatz in ihrer jeweiligen Stadt aussprachen.

Ungeachtet dieser Detailfragen wurde die ver.di in einer für Gewerkschaften irrwitzigen Geschwindigkeit auf den Weg gebracht. Man will schnell nachholen, was in der Wirtschaft längst gang und gäbe ist: Durch Fusionen entstehen neue Verbände, schrumpfende Gewerkschaften vergrößern sich durch feindliche Übernahmen. Was im Jahre 1995 mit dem Zusammenschluss von IG Chemie, Papier, Keramik und IG Bergbau und Energie zur IG Bergbau, Chemie, Energie (BCE) begann, findet nun seine vorläufige Vollendung. Der DGB wird dann anstatt 16 nur noch acht Mitgliedsgewerkschaften haben.

Um die Kräfte zu bündeln und der veränderten ökonomischen Situation Rechnung zu tragen, erklärten Anfang Oktober 1997 die Chefs von DPG, HBV, GEW, ÖTV, IG Medien und DAG, "dass zur Wahrung der Mitgliederinteressen eine Neustrukturierung der gewerkschaftlichen Interessenvertretung dringend geboten" sei. Angesichts gesellschaftlicher, ökonomischer und sozialer Veränderungen hätten Mitglieder und potenzielle Mitglieder eine differenziertere Erwartung an Gewerkschaften. Ihnen sollten zukünftig mehr "Beteiligungsrechte und Gestaltungschancen" eingeräumt werden, heißt es in einem gemeinsamen Papier. Obwohl an der Beratung beteiligt, stiegen die Chefs von Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) und Eisenbahnergewerkschaft (GdED) aus dem Projekt aus. Später verabschiedete sich auch die GEW. Der Verband beschloss, sich künftig vom Stigma der "reinen Lehrergewerkschaft" zu lösen, um "Bildungsgewerkschaft" zu werden. Die gesamte "Wertschöpfungskette" vom Kindergarten über Schulen zu sozialtherapeutischen Diensten und Hochschulen soll demnach in der GEW organisiert werden.

Mitte der neunziger Jahre verleibte sich die Baugewerkschaft die kleine Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft (GGLF) mit ihren 90 000 Mitgliedern ein und nannte sich nicht mehr IG Bau-Steine-Erden, sondern IG Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU). Die IG Metall schluckte die Textil- und Holzarbeitergewerkschaft. Zur BCE stieß die kleinste DGB-Gewerkschaft Leder mit ihren 26 000 Mitgliedern. Alles in allem wurden diese Zusammenschlüsse als "Insolvenzfusionen" bezeichnet. Nicht die politische Einsicht, sondern das Geld zwang die Gewerkschaftsstrategen zum Handeln. So sind Multibranchen-Gewerkschaften entstanden, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben.

Völlig orientierungslos sind die Gewerkschaften im Organisieren neu entstandener Beschäftigungsfelder: So ist beispielsweise der Bereich Telekommunikation bis auf die Ausnahme Telekom bislang eine weitgehend gewerkschaftsfreie Zone. Aber auch in Softwarehäusern wie SAP und IBM oder ausgegliederten "Dienstleistungszentren" großer Konzerne wie etwa der Daimler-Chrysler-Tochter Debis kommen die Verbände kaum zum Zuge. Mitunter streiten sich drei Gewerkschaften um die Zuständigkeit im Telekommunikationssektor.

So erklärt sich beispielsweise die IG Metall aus Tradition für den Mannesmann-Konzern zuständig, auch wenn das Unternehmen jetzt mit der Telekommunikation auf den Markt gehe. Dasselbe behauptet die BCE mit Blick auf Veba und Viag. Und auch die DPG hält sich für die Fachgewerkschaft in Sachen Telekommunikation, weshalb die ver.di zukünftig den gesamten Bereich der Fest- und Mobilfunknetzbetreiber organisieren müsse. Demnächst soll nun eine "Clearing-Gruppe" im DGB die Kontrahenten an einen Tisch bringen und die Organisationszugehörigkeit festlegen.

Wegen der vielen ungelösten Fragen bleiben auch nach den Beschlüssen der vergangenen Woche vor allem ehrenamtliche Gewerkschafter skeptisch. Niemand verbindet mit ver.di den großen Wurf, gleichzeitig ist unbestritten, dass die heutige Gewerkschaftslandschaft nicht mehr den Strukturen der Wirtschaft entspricht. Wo etwas völlig Neues zu Wege gebracht werden müsste, versucht man, die Strukturen von fünf Verbänden übereinander zu basteln und schafft damit eher Desorganisation denn Schlagkraft. So brachte es auch ein Delegierter auf dem Kongress der IG Medien auf den Punkt: Während "draußen die Republik sozialpolitisch umgebaut wird, üben wir hier organisationspolitisches Hickhack".