Liebe Lehrer!

Der Jugend wird der ganze Gesellschaftsmüll aufgehalst. Ist es ein Wunder, wenn sie irgendwann zurücksticht?

In Meißen hat ein 15jähriger seine Geschichtslehrerin mit mindestens neun Messerstichen umgebracht. Ein in gewisser Weise ironisches Verbrechen. Denn obwohl angekündigt, wollte es von den Mitschülern keiner wahr haben. Der Film zum Plot kam schon letzte Woche frisch auf den Tisch aus Hollywood, USA, wo man das Lehrermorden erfand. Titel: "Tötet Mrs. Tingle". Mrs. Tingle ist - Geschichtslehrerin. Josef Kraus, Präsident vom Deutschen Lehrerverband, findet den Titel pervers.

In Berlin sollte auf Anordnung der Berliner Innenverwaltung eine 16jährige nach Ghana abgeschoben werden. Das ist unironisch. Aus Angst war sie bereit, freiwillig ins Flugzeug zu steigen. Die Mitschüler protestierten vor dem Polizeipräsidium. Herr Kraus vom Deutschen Lehrerverband war nicht auf der Demo. Das Mädchen lebte bei ihrer Mutter, die mit einem Deutschen verheiratet ist. Wir entnahmen das leider nur einer Notiz in der Lokalpresse. Allein in Berlin sitzen 80 Minderjährige in der Abschiebehaft, die sind also alle kriminell.

Jugendliche machen eine ganze Menge mit heutzutage. So oder so. Jetzt hat also einer zurückgeschlagen. Im Fall der 16jährigen hätten sich in früheren Zeiten vielleicht ein paar Erwachsene eingeschaltet. Die hatten in den siebziger Jahren ein Komitee gegründet, damit der Apparat nicht zu frech wird. Dieses Komitee nannte sich Rote Armee Fraktion und bat die Klasse zur Kasse und erreichte gezielt übrigens das Gegenteil. Die RAF hat sich aber für frühverrentet erklärt, Dr. Schily, ihr Anwalt, ist heute der Abschieber. Deshalb müssen die Jugendlichen nun die für sie zuständigen Verbrechen selbst verüben.

Wir hauen ab vor der Gesellschaft, sagen sie. Wer in einer perversen Umgebung lebt, der wird selbst pervers, lieber Deutscher Lehrerverband, der du randvoll bist mit Gewerkschaftshassern. Müßig zu sagen, dass die Opferlehrerin auch unter diesen Bedingungen aufgewachsen ist. Lehramtsausbildung heißt: Erst Schule, dann Studieren, dann wieder Schule. Wer bis zum Examen keinen offiziellen Selbstmord verübt hat, hat in sich inoffizell alles abgetötet. Es gibt zwei Kollektive, die zwangsläufig zum Exitus führen: das Militär und das Lehrerkollegium.

Ja, die Gesellschaft wird immer krimineller, da jaulen sie jetzt zu Recht, die Zeitungs-, Radio- und Fernsehfritzen. Alle. Selbst aus dem Gefängnis vernehmen wir Kritisches. Kinder ziehen sie durch die Soße. Wer ergreift Partei? Waren die Eltern schuld? Mindestens wohl im Fall der 16jährigen? Das ist zum Lachen. Der Staat lacht auch laut mit. Der kann heute ungestraft sogar einen Krieg anzetteln. Und der ganze Unrat wird dann den potenziellen Rentenzahlern aufgehalst.

Ein Blick in die Statistik: Auf einen getöteten Lehrer kommen 1 312 Kinder und Jugendliche, die vom Lehrer in den Selbstmord getrieben worden sind. Diese Zahlen geben zu denken. Stattdessen aber geilen sich die Medien am einzelnen Junggewalttäter auf; sie verschweigen die Opfer der strukturellen Gewalt in Schulen und anderen Anstalten. Dort deformieren Pädagogen die Psyche und den Selbsterhaltungstrieb der jeweils jüngeren Generation. Wenn es nicht eine Ausnahme gäbe, eine einzige, die im Generationenkampf sich mit der Waffe in der Hand zum Überleben anschickte.

Ja, der 15jährige Messerstecher nahm eine Aufgabe wahr. Er wählte mit dem Klassenzimmer den Öffentlichen Raum; er kündigte seine Inszenierung vorher an; die Performance war für ein Publikum bestimmt. Einer wollte was. Aber dürfen Jungjugendliche denn was wollen, ohne vorher zu fragen? Darauf hat auch der saubere Herr Funke keine Antwort. Aber der sitzt ja auch sicher in seiner Sicherungsverwahrung.

Die Jugendstrafgesellschaft ist jedenfalls auch nach dem Meißener Geschichtslehrerinnenmord auf dem richtigen Weg, wie sie findet. Derzeit prüft die dortige Staatsanwaltschaft, ob sich Mitschüler des mutmaßlichen Täters durch Nichtanzeige eines geplanten Verbrechens strafbar gemacht haben. Wir wissen, wo das endet. Man kriegt nur das raus, was man reinstopft. Und mutmaßlich stopft man uns wegen dieser schonungslosen und intelligenten Analyse zu Herrn Funke in die Zelle. Dann hat er wenigstens zweie zum Reden.

Dietrich Kuhlbrodt, 67, ist Oberstaatsanwalt a.D. Heute gehört er zur Bande von Christoph Schlingensief.