Die drei Tenöre

In Paris feierte die Sozialistische Internationale einmütig ihre differenzierten Gemeinsamkeiten.

Keiner kann den anderen leiden, und dennoch verstehen sich alle prächtig. Die meisten Familientreffen verlaufen auf diese Weise, und auch die Sozialistische Internationale (SI) zeigte vergangene Woche, dass sie dieses Schauspiel meisterlich beherrscht. Die Sozialdemokraten feierten im Kongresszentrum CNIT, im futuristischen Banken- und Geschäftsviertel La Défense vor den Toren von Paris, "einmütig ihre Differenzen" - so beschrieb jedenfalls Le Monde den Verlauf des Treffens. Entsprechend mager fiel auch das Ergebnis des SI-Kongresses, der alle drei Jahre stattfindet, aus: Ein Kompromisspapier, das die unterschiedlichen Strategien zugleich integrieren und bedienen soll.

Im Verlauf der Tagung hatten die SI-Größen, darunter elf Regierungschefs, ihre inhaltlichen und strategischen Differenzen zwar anklingen lassen, sich aber davor gehütet, diese auch öffentlich auszutragen. Dabei repräsentieren gerade die drei Spitzenpolitiker Tony Blair, Gerhard Schröder und Lionel Jospin in der Öffentlichkeit mittlerweile sehr unterschiedliche Politik-Konzepte.

Wie groß die Differenzen zwischen den führenden sozialdemokratischen Parteien jenseits aller Rhetorik wirklich sind, bleibt allerdings offen. Schließlich betreiben auch die französischen Sozialisten, die sich mit Kommunisten und - bisweilen rebellischen - Grünen in einer Regierungskoalition befinden, eine Politik, die die Anpassung an die "Globalisierung" längst vollzogen hat.

Immerhin befürworten die französischen Sozialisten eine stärkere Regulierung des internationalen Finanzsystems. Auch versucht die Linkskoalition, bei der Privatisierung öffentlicher Unternehmen - wie etwa bei France Télécom - einen Staatsanteil von rund 50 Prozent am Kapital dieser Gesellschaften zu behalten. Damit verschafft sich der französische Staat genügend Spielraum, um bei Fusionen oder wichtigen strategischen Entscheidungen mitreden zu können.

Unterschiedlich sind auch die Ausgangspositionen der jeweiligen Sozialdemokratien in Großbritannien und Frankreich. In Großbritannien war die Sozialdemokratie 18 Jahre lang in die Opposition verbannt, während eine rabiate konservative Regierung die einst mächtige Gewerkschaftsbewegung fast zur Bedeutungslosigkeit degradierte. Der Basis der Labour Party wurde damit die Möglichkeit genommen, Antworten auf soziale Probleme zu entwickeln; zudem nahm durch die Zerschlagung traditioneller Arbeits- und Solidaritätsstrukturen auch das subjektive Vertrauen in die Möglichkeit solcher Lösungen ab. Um so entschiedener konnte sich anschließend "New Labour" der modernen "Unternehmerkultur" und der "Neuen Mitte" zuwenden.

Die französische Sozialdemokratie hatte hingegen die als "modern" gepredigten Konzepte bereits in den späten achtziger Jahren unter der zweiten Präsidentschaft Fran ç ois Mitterrands angewandt. Ihren größten Flop erlebte sie mit dem vermeintlichen Erfolgsunternehmer Bernard Tapie, den sie als Vorzeige-Minister aufgebaut hatte. Tapie entpuppte sich bald als Pleitegeier, der nicht einmal seine eigenen Kredite zu tilgen vermochte. Und die Sozialisten bezahlten diese Politik zwischen 1988 und 1993 mit der verheerendsten Wahlniederlage ihrer Geschichte - der PS fiel von 36 auf 17 Prozent der Stimmen ab.

Heute gehört der PS wieder zu den führenden sozialdemokratischen Parteien in Europa. Die Niederlage von Blair und Schröder bei den Wahlen zum EU-Parlament im Juni dieses Jahres sowie die Schlappen der SPD bei mehreren Landtagswahlen hat die Position des französischen PS weiter begünstigt. Hinzu kommt, dass Tony Blair seinen Ende 1998 verfolgten Plan mittlerweile aufgegeben hat, außerhalb der SI einen neuen Zusammenschluss "moderner" Mitte-Links-Parteien zu gründen. Dieser hätten, neben "New Labour" und den italienischen "Linksdemokraten", auch die US-Demokraten unter William Clinton angehören sollen. Stattdessen wird nun am 21. und 22. November eine Tagung der Chefs der "modernisierten Linksparteien" in Florenz stattfinden. An dem Treffen nimmt, neben Blair und Schröder, auch Clinton teil. Von einer Abspaltung ist keine Rede mehr.

Entsprechend harmonisch gestaltete sich der Ablauf des Pariser Treffens. Jeder der drei Tenöre der europäischen Sozialdemokratie hielt seine eigene Rede, in der zwar unterschiedliche Akzente gesetzt wurden, in denen aber keiner den Widerspruch zum anderen hervorzuheben versuchte.

Einen Tag vor der SI-Tagung hatte beispielsweise Tony Blair in der Pariser Sonntagszeitung JDD einen "Brief an die Franzosen" veröffentlicht, in dem er seine Nähe zu Jospins andeutet. Der Text enthält die Lieblingsformulierung des Pariser Regierungschefs, nach der die Sozialdemokratie die Marktwirtschaft befürworten, aber eine "Gesellschaft des Marktes" ablehnen müsse. Geschickt verwies Blair in seinem Vortrag auf dem SI-Kongress dann allerdings auch auf die neoliberalen Reformen der Jospin-Regierung hin - wie etwa die Privatisierungen - und stellte die Unterschiede zwischen den Parteien als von den Medien übertrieben dar.

Verständnisvoll gab sich auf der SI-Tagung auch der deutsche "Neue Mitte"-Kanzler Gerhard Schröder, der langatmige Auslassungen über die "unvergänglichen sozialdemokratischen Werte" wie soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit darbot. Allerdings fand er auch die nötigen Einschränkungen: "Solidarität ist keine Einbahnstraße. Jeder muss Anstrengungen erbringen, so viele Anstrengungen wie möglich", erklärte er. Die französische Nachrichtenagentur AFP hatte ihn wenige Tage zuvor noch mit der Äußerung zitiert, die Versorgung der Armen obliege heute nicht mehr der Politik - die "überfordert" sei -, sondern den Kirchen.

Jospin beschrieb in langen historischen Ausführungen die Rolle des Keynesianismus bei der Überwindung der Weltwirtschaftskrise von 1929 und hob gar die Bedeutung des Marxismus hervor. Dieser sei als Analyse-Instrument, um "den Kapitalismus zu begreifen", nach wie vor aktuell. Es stehe, so Jospin, "nicht mehr auf der Tagesordnung, eine andere Gesellschaft zu errichten, aber es muss immer noch auf der Tagesordnung bleiben, die bestehende Gesellschaft zu verändern".

Um die unterschiedlichen ideologischen und rhetorischen Sensibilitäten gleichermaßen zu berücksichtigen, verabschiedete der SI-Kongress ein Dokument - die "Erklärung von Paris" -, der es an widersprüchlichen Formulierungen nicht mangelt.

Das Dokumente setzt sich im Wesentlichen aus Teilen des Schröder-Blair-Papiers und einem vom französischen PS im September vorgelegten Gegenentwurf zusammen. Die "Erklärung von Paris" spricht sich für "die Ermutigung des Unternehmergeistes in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht" aus - und sieht gleichzeitig in dem "permanenten kritischen Verhältnis zum Kapitalismus" die Legitimation des "demokratischen Sozialismus".

An konkreten Forderungen enthält das Papier das "Recht auf Einmischung", wenn "humanitäre Interventionen" nötig erscheinen, die Einrichtung eines internationalen wirtschaftlichen Sicherheitsrates unter der Aufsicht der UN sowie die Forderung nach einer "Reform" von IWF und Weltbank. Und natürlich sollen - wie immer - der Hunger bekämpft, der Frieden aufgebaut und die Menschenrechte gesichert werden.