Scilingos Schwenk

Der spanische Untersuchungsrichter Garz-n hat internationale Haftbefehle gegen 98 argentinische Militärs und Polizeioffiziere erwirkt. Aber sein Zeuge, der Ex-Marineoffizier Scilingo, will nicht mehr mitspielen.

Mit Empörung reagierte Argentiniens noch amtierender Präsident Carlos Menem auf die Nachricht, dass Spaniens bekanntester Richter, Baltasar Garz-n, internationale Haftbefehle gegen 98 Vertreter der letzten argentinischen Militärdiktatur (1976 bis 1983) erwirkt hat. Für Menem ist das Vorgehen Baltasar Garz-ns eine "Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates" und ein Akt der "juristischen Kolonisierung".

Wenig begeistert von der Initiative Garz-ns zeigte sich auch die spanische Regierung. Der Staatssekretär für internationale Kooperation und Lateinamerika, Fernando Villalonga, bezeichnete das Vorgehen Garz-ns als "aus politischer Perspektive schädigend für das Ansehen Spaniens in Lateinamerika".

Darauf hatte Garz-n allerdings schon im Falle Pinochet keine Rücksicht genommen. Ihm geht es um die Auslieferung der 98 Militär- und Polizeioffiziere, die für Völkermord, Terrorismus und Folter während des "schmutzigen Krieges" der argentinischen Militärdiktatur verantwortlich gemacht werden. Unter den Beschuldigten befinden sich die Ex-Diktatoren Jorge Videla und Leopoldo Galtieri sowie das berüchtigte Junta-Mitglied Emilio Massera, die nach Schätzungen für das "Verschwinden" von 30 000 Linken und Oppositionellen - unter ihnen 576 Spanier - verantwortlich sind; nach einem offiziellen Bericht sind 9 000 Menschen ermordet worden oder "verschwunden".

Akribisch hatte Garz-n in den letzten Jahren Beweise gegen die zentralen Figuren der argentinischen Militärdiktatur gesammelt und Zeugen befragt. Und einen weiteren Trumpf hatte er für sein spektakuläres Anliegen, die Militärjunta vor Gericht zu bringen, gewinnen können: Adolfo Francisco Scilingo.

Der kennt das Terrorsystem, das die Junta aufgebaut hatte, im Detail. 1995 hatte der ehemalige Marineoffizier gegenüber dem argentinischen Journalisten Horacio Verbitzky von P‡gina 12 erstmals tiefe Einblicke in den "schmutzigen Krieg" gegen die Opposition gegeben. Scilingo hatte geschildert, wie in der berüchtigten Mechanikerschule der Kriegsmarine (ESMA) systematisch und bestialisch Oppositionelle gefoltert wurden. Lebende Nagetiere wurden den Gefangenen in den Anus bzw. die Vagina eingeführt, Elektroschocks standen auf der Tagesordnung und Überlebende wurden betäubt und aus Flugzeugen in den Atlantik geworfen. An mehreren dieser Flüge hatte Scilingo selbst teilgenommen. Seine Schilderungen und die Forderung an die Adresse der Militärs, endlich Klarheit zu schaffen und die Bevölkerung über die Verbrechen der Junta zu informieren, sorgten im In- und Ausland für beträchtliches Aufsehen.

Vor zwei Jahren, im Oktober 1997, hatte sich Scilingo der spanischen Justiz gestellt, nachdem er in Argentinien wiederholt bedroht worden war. Bis Donnerstag vergangener Woche galt er als Kronzeuge in einem etwaigen Prozess.

Doch aus bislang unbekannten Gründen hat sich der reuige Mörder Scilingo von seinen bisherigen Aussagen distanziert und sie widerrufen. Er habe sie erfunden, um dem Junta-Mitglied Massera zu schaden, so Scilingo. #Bei seinem Geständnis habe es sich um eine abgekartete Sache gehandelt, hinter der Garz-n, argentinische Menschenrechtler und seine Anwälte gestanden hätten. Er habe lediglich einen vorbereiteten Text wiedergegeben, sagte Scilingo gegenüber der spanischen Tageszeitung El Pa's.

Die überraschende Kehrtwende Scilingos hat Vermutungen, dass er bedroht werde, neue Nahrung gegeben. Zwar verfügt Garz-n über die beeideten Aussagen Scilingos, aber sollte es zum Prozess kommen, stünde Garz-n ohne seine Schlüsselfigur da, die die Ermittlungen erst so richtig ins Rollen gebracht hatte.

Das Zustandekommen eines Prozesses allerdings ist recht unwahrscheinlich: Die argentinische Regierung würde einer Auslieferung kaum zustimmen. Das hat der zukünftige argentinische Präsident Fernando de la Rœa in einer ersten Reaktion bereits deutlich gemacht. Die Haftbefehle, so de la Rœa, hätten keine Gültigkeit in Argentinien.

Dort sind die Beschuldigten durch die beiden Amnestiegesetze von 1986 (das "Schlusspunkt-Gesetz") und 1987 sowie durch die zahlreichen, vom derzeit noch amtierenden Präsidenten Carlos Menem unterzeichneten Begnadigungen gegen die Anklagepunkte, die Garz-n ins Feld führt, weitgehend geschützt.

Viele der Beschuldigten sind zudem bereits vor argentinischen Gerichten abgeurteilt, sodass eine Auslieferung wenig wahrscheinlich ist. Überdies sind gegen Videla und Massera derzeit Verfahren wegen Kindesraub anhängig - ein Delikt, das nicht unter die Amnestiebestimmungen fällt, sodass eine Auslieferung dieser beiden nicht in Betracht kommt.

Ohnehin ist zum jetzigen Zeitpunkt strittig, ob die spanische Regierung ein Auslieferungsbegehren stellen wird. Die Staatsanwaltschaft in Madrid hat beim Nationalen Gerichtshof Einspruch gegen die Haftbefehle eingelegt und die Einstellung der Ermittlungen beantragt. Die spanische Justiz, so die als ultrakonservativ bekannten Beamten, sei für Vergehen, die außerhalb ihres Staatsgebiets begangen worden seien, nicht zuständig.

Eine Einschätzung, die der amtierende argentinische Innenminister Carlos Corach teilt. Für ihn ist das Vorgehen Garz-ns eine Verletzung der nationalen Souveränität und eine Medienshow eines ehrgeizigen Untersuchungsrichters. Corach erinnerte zudem an die dunklen Kapitel in der spanischen Geschichte, über die sich Argentinien auch nicht zu richten anmaße: "Eine Million Tote, Hinrichtungen, Folter, und niemals wurde in der spanischen transici-n auch nur ein Militär abgeurteilt", sagte Corach und forderte damit Garz-n indirekt auf, vor der eigenen Tür zu kehren.

Immerhin hat Garz-n erreicht, dass die Verantwortlichen der Militärdiktatur ihr Land nicht mehr ohne Verhaftungsrisiko verlassen können und dass unter das Kapitel Militärjunta kein Schluss-Strich gezogen wird, wie es Carlos Menem gerne sähe. Der hatte sich in der Vergangenheit gegen sämtliche Initiativen mit der Zielrichtung Aufarbeitung der Vergangenheit gewandt und Garz-n als "Rache-Richter" bezeichnet.