Im Namen der Neurose

Während "Sensation" in New York noch für Aufregung sorgt, stellt Charles Saatchi in London seine jüngste Produktlinie vor: "Neurotic Realism".

Andere Länder haben auch ihre Mäzene, auch andernorts wird der Kunstbetrieb nach Gutsherrenart geführt - nirgendwo jedoch so offensiv wie in Großbritannien von Charles Saatchi. Er ist alles in einer Person: Cooler Pate und Promoter, Mäzen und Macher, Scout und Spekulant. In den Sechzigern hat er mit seinem Bruder die Werbeagentur Saatchi & Saatchi gegründet, die mit ihren pointierten Kampagnen die Werbewelt revolutionierte und bald zu einem der internationalen Marktführer aufstieg.

In den Siebzigern erfanden Saatchi & Saatchi die politischen Spindoctors. Mit dem catchy Slogan "Labour isn't working", dessen Umsetzung kürzlich von einer britischen Fachjury zum Plakat des Jahrhunderts gewählt wurde, verhalf er Margaret Thatcher zu Popularität. Allerdings sei die Verbindung mit den Tories rein professioneller Natur gewesen, logisch. Dass auch in den Jahren danach die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Kulturinstitutionen und dem Kunstsammler und Galeristen Saatchi wie auf Schienen lief, kann nur Zufall sein.

Saatchis Liebe zur Kunst ist eine bedingungslose, wobei die Qualität von Kunst sich ganz subjektiv nach den Maßstäben der Werbung bemisst: Oberflächlich darf sie ruhig sein, solange sie einen Nerv trifft. Bei den Abschlussausstellungen der wichtigsten Londoner Kunst-Akademien bekommt Saatchi seine persönliche Sneak-Preview; wenn ihm etwas gefällt, kauft er gleich die gesamte Produktion des oder der Glücklichen auf. Saatchi-Künstler sein heißt ausgesorgt haben. Größter bisheriger Coup war die aus seiner Sammlung kompilierte "Sensation"-Ausstellung, die als kalkulierter Skandal das Label "Young British Artists" oder schlicht "YBA" weltweit etablierte.

Erst in den letzten Wochen geriet Saatchi mit "Sensation", die derzeit im Brooklyn Museum of Modern Art zu sehen ist, erneut in die Schlagzeilen. Bürgermeister Rudolph Giuliani hatte an einem Bild des Turner-Preisträgers Chris Ofili Anstoß genommen, das die "Heilige Jungfrau Maria" als Collage mit Elefanten-Dung und Pornoschnipseln darstellt. "Krank" nannte Giuliani das Bild und wollte den städtischen Museumsetat von 7,2 Millionen Dollar einfrieren. Ofilis Galerie nannte dieses Vorgehen "faschistisch", und auch der tapfere Direktor des Brooklyn Museum erkannte den PR-Wert der Show und stellte auf stur. Am Montag vergangener Woche hat ein Gericht entschieden, dass Guiliani weiter zahlen muss und der Streit geht in die nächste Runde. Alles unbezahlte Öffentlichkeitsarbeit.

Charles Saatchis Kunstmaschine funktioniert, wenn man so will, streng nach dem Produktlebenszyklus-Schema der Boston Consulting Group. Während die von Saatchi mehr oder weniger erfundenen YBA längst zur "Cash Cow" geworden sind, Geld abwerfen und keiner weiteren Fürsorge bedürfen, wird schon der nächste Star am Firmament platziert, damit das Gesamt-Portfolio stimmt. "Neurotic Realism" heißt die leichthändig in die Welt gestemmte neue Kunstrichtung, die die YBA beerben soll und zur Zeit, bereits in der zweiten Runde, als "Part Two" in den großzügigen Räumen der Londoner Saatchi Gallery zu sehen ist. Verblüffend vor allem ist die Kühnheit des Labels angesichts der völlig disparaten, keineswegs im klassischen Sinne nur realistischen Kunst, die darunter versammelt ist.

Wenn das Reale längst psychedelisch und nur noch medial vermittelt ist, so der stupende Kunstgriff, dann kann umgekehrt auch das Psychedelische oder rein Mediale "Realismus" heißen, also quasi alles. Oder, wie es der Katalog formuliert: Die Kunst des Realismus bestehe traditionell darin, hinter die Oberfläche zu blicken, nur "das Problem ist, dass heute niemand mehr so genau weiß, wo die 'Oberfläche' liegt".

Jean Baudrillard lässt grüßen, auch wenn von der "Agonie des Realen" nicht viel zu spüren ist. "Neurotic Realism" ist demnach ein munterer Querschnitt von Arbeiten britischer Künstler und Künstlerinnen, die Saatchi in der letzten Zeit gekauft hat. Punkt. Dazu gehören die noch am ehesten dem Vorverständnis von Realismus entsprechenden Apparaturen von Mark Hoskin - einfache Pflugmaschinen und Pumpen, gebaut nach einem OECD-Handbuch für Drittweltländer - ebenso wie die bunten Kästchen-Tapeten von Peter Davies. Auch die großformatig bunten "Hot onehundred"-Listen von Davies passen hervorragend in diesen Kontext, markieren sie doch ironisch die Heraufkunft einer vollständig selbstreferenziellen, nur auf Glam und Stardom fixierten Kunstszene.

Immerhin lassen sich zwei Tendenzen ausmachen, die allein deshalb signifikant sind, weil sie anderswo kaum berücksichtigt werden. Neben der von Haus aus "realistischen" Fotografie, die hier in den Arbeiten von Sarah Jones oder Tom Hunter zu einem gleichsam geläuterten, doppelbödigen Sozialrealismus wird, ist dies das klassische Tafelbild, welches beispielsweise bei den Nominierungen zum diesjährigen Turner Prize gar nicht mehr auftaucht. (Dafür sorgt in der Tate Gallery das zerwühlte Bett von Tracey Emin für Furore, das als perfekter Platzhalter fungiert, sowohl was das Realistische als auch vor allem, was das Neurotische angeht.)

Die Tafelbilder in Öl oder Acryl beschäftigen sich bevorzugt mit den Themen Sex, Glam und Stardom, denn schließlich: That's what it's all about. Davon handeln die Porno-Stills in Acryl von Chantal Joffey oder die pseudo-naiven Band- und Party-Panoramen von Mark Maloney. Auch die an CD-Cover von Aphex Twin erinnernden Kinder von Nick Hoberman oder die dreidimensionalen Wachsfiguren von Ron Mueck gehören in diesen Kontext.

In "Part Two" sind es aber vor allem die Bilder von Dexter Dalwood, die diesem Vorsatz folgen. Das Bildmaterial von Hochglanzmagazinen verfremdet Dalwood zu Visualisierungen von Orten, die jeder vom Hörensehensagen kennt, aber kaum einer zu Gesicht bekommen hat: Graceland, das "Paisley Park"-Appartement des Künstlers ehedem bekannt als Prince, die Brücke der Enterprise, das Laboratoire Garnier.

Neben diesen fetischisierten Orten der Reichen und Schönen nimmt sich der Lifestyle der abdankenden Aristokratie aus Dalwoods Sicht geradezu ärmlich aus. Einem Einbrecher, der vor ein paar Jahren in das Schlafzimmer von Queen Elizabeth vorgedrungen ist, verdanken wir die Information, dass die Queen in einem Einzelbett schläft, neben dem ein Fernseher steht. In Dalwoods Version wird daraus ein deprimierendes Drahtgestell und ein Heizlüfter. Das Saatchi-Domizil, sicherlich ein ergiebiges Thema, taucht dagegen bislang nicht auf, aber das kennt Dalwood vermutlich auch aus eigener Anschauung, was seinem Prinzip zuwiderliefe.

Dass der "Neurotische Realismus" längst in der neurotischen Realität angekommen ist - zwar nicht in der Kunstgeschichte, aber zumindest auf dem Kunstmarkt -, ließ sich in der vergangenen Woche bei Christie's beobachten. Im Rahmen der Wohltätigkeitsauktion "Baby 2000", die u.a. Saatchis Ehefrau Kay initiiert hatte, wurden bereits Werke der in der Ausstellung vertretenen Künstler versteigert. Ein unspektakuläres Interieur in Öl von Dexter Dalwood, das mit maximal 10 000 Mark geschätzt worden war, nahm locker die 50 000er-Marke. Charles Saatchi saß übrigens auch im Parkett und hat hier und dort mitgesteigert, etwas gelangweilt, wie es schien.

"Neurotic Realism: Part Two". The Saatchi Gallery, London. Bis 5. Dezember