Amoklauf in Bad Reichenhall

Amoklauf in Bad Reichenhall

Wenn man eine Frage nur laut genug stellt, dann kann man sich die Suche nach der Antwort gleich sparen. Also wählte der Berliner Kurier - so wie jede andere Boulevardzeitung der Republik - seine größten Lettern und posaunte: "Warum lief der brave Martin Amok?" "Ganz Deutschland" stelle sich diese Frage.

Sehr lange musste sich niemand die Frage stellen, denn schon kurz nach der Tat hatte Oberstaatsanwalt Wolfgang Giese aus Traunstein die Worthülse parat, mit der man sich alsbald beruhigte: "Das Motiv liegt in der Persönlichkeit des Täters." Und da liegt es gut begraben. Erklärungsversuche, wie sie bei Amokläufern in den USA längst zum festen Repertoire jeder Zeitung gehören, konnte man sich sparen.

Wenn in Amerika einer ausrastet, reicht deutschen Medien die "Persönlichkeit des Täters" längst nicht mehr als einzige Erklärung. Ganz schnell ist die US-Gesellschaft als eigentlich Schuldige identifiziert. Hintergrundberichte verweisen auf die hohe Anzahl von Handfeuerwaffen, auf den mörderischen Wettkampf unter Börsenmaklern, auf den exzessiven Konsum von Gewaltvideos unter Jugendlichen, auf die Hoffnungslosigkeit bei Jobverlust, auf den Hitlerkult unter Schülern aus der weißen Mittelklasse, auf die Brutalisierung der US-Gesellschaft im Allgemeinen. Hat man in der vergangenen Woche auch nur einen einzigen Kommentar gelesen, der diese Parameter in Deutschland unter die Lupe genommen hätte? Die deutsche Gesellschaft in ihrer kleinstädtischen Ausprägung, so steht es zwischen den Zeilen, sei eigentlich schon in Ordnung. Umso beunruhigender, dass hier einer Amok läuft.

Die miefige Kleinstadtidylle des Kurorts Bad Reichenhall kommt in den Berichten nur als malerische Kulisse eines blutigen Schauspiels vor. Die Hakenkreuz-Embleme im Kinderzimmer des Amokläufers, das gerahmte Hitlerbild im Zimmer der Schwester, die mit einem Skinhead liiert ist: sehr sonderbar, all das, aber sonst gibt es so was hier nicht. Gotcha-Spielchen im Wald, Dutzende von Ballerspielen für die Playstation: Nichts, sagen die Eltern, als sie nach Tagen endlich vernehmungsfähig sind, habe darauf hingewiesen, dass ihr Martin so etwas tun könnte.

Von der Nachbarschaft in der Riedelstraße wollen die Reporter weitere Details über die "Persönlichkeit des Täters" erfahren - vergeblich: Wie sich herausstellt, verkehrt man mit den Peyerls nicht. Die sozialen Kontakte von Rudolf Peyerl, einem Alkoholiker und ehemaligen Unteroffizier der Bundeswehr, der sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, beschränken sich auf den Schützenverein. In seinem Waffenschrank, den Sohn Martin aufbrach, bewahrt er 19 verschiedene Handfeuerwaffen auf. In der Garage eine Schießscheibe, die den Umriss eines Menschen darstellt. Gebraucht. So etwas ist normal bei einem Bundeswehr-Soldaten.

Isoliert soll auch Martin Peyerl gelebt haben, der spätere Amokläufer. In der Schule, steht in der Bild, habe er als Spinner gegolten. Nach dem Massaker von Littleton, wo zwei jugendliche Hitler-Fans 13 Mitschüler ermordeten, habe er geschwärmt, das sei cool gewesen, das müsse man einmal nachmachen. Na endlich: Deutschland ist wieder einmal gerettet. Das Motiv ist gefunden, und es handelt sich um Importware. Wie vermittelt man das dem Leser? Na, dafür gibt es doch die großen Lettern: "Der amerikanische Alptraum - jetzt mitten in Deutschland".