Handel ist Politik

Die "Millenniumsrunde" für den Welthandel könnte an den Konflikten zwischen USA und Europa scheitern.

Der CIA macht sich Sorgen um die Sicherheitslage, der US-Präsident ebenso und der Gastgeber droht mit seiner Erfahrung als kampfgeschulter Gewerkschafter. Der neue Generaldirektor der Welthandelsorganisation WTO, der Neuseeländer Mike Moore, muss sich bei den Vorbereitungen für die jährliche Ministerkonferenz der WTO Ende November in Seattle nicht nur auf barrikadenstürmende "Ökokrieger, Anarchisten und Hooligans" (Handelsblatt) einstellen. Der eigentliche Streit wird zwischen den Mitgliedsstaaten ausgetragen - wer bekommt welchen Marktzugang bei der WTO? Und ob die so genannte "Millenniumsrunde" überhaupt stattfinden kann, das ist noch gar nicht ausgemacht.

Die Zeiten, in denen Handelspolitik vor allem mit dem Abbau von Zöllen beschäftigt war, sind lange vorbei. Spätestens 1994, als das Gatt-Abkommen (General Agreement on Trade and Tariffs) von der Welthandelsorganisation abgelöst wurde, begannen andere Zeiten: Die WTO kümmert sich nicht mehr nur um den zollfreien Handel mit Industrieprodukten, sondern auch um Dienstleistungen, Patente und - vor allem - um die Rechtsprechung bei Handelskonflikten.

"Viele Entwicklungsländer wissen überhaupt nicht so genau, was sie da eigentlich unterschrieben haben", glaubt Sophia Twarog von der Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (Unctad). Joseph Stiglitz, Chefökonom der Weltbank, appellierte vor einigen Wochen an die tonangebenden Industriestaaten, den Entwicklungsländern endlich einen fairen Anteil am Welthandel zu ermöglichen. Die Entwicklungsdoktrin "Handel statt Hilfe" sei bisher nur ein leerer Slogan.

Rein rechnerisch haben die Entwicklungsländer zwar die Mehrheit bei allen Abstimmungen unter den 134 Mitgliedsländern der WTO. In der Praxis ist diese Mehrheit aber nur schwer realisierbar - 19 von 43 afrikanischen Staaten können sich keinen eigenen Vertreter am Sitz der WTO in Genf leisten, während die Vereinigten Staaten oder die Europäische Union eine Heerschar von Anwälten, Gutachtern und Diplomaten für die Durchsetzung ihrer Interessen bezahlen.

Einige der Themen, um die ab November verhandelt wird, wurden schon bei der WTO-Gründung 1994 festgelegt. Dienstleistungen und weitere Zollsenkungen bei Industriegütern stehen in jedem Fall auf der Tagesordnung. Auch über den Zugang zu den Agrarmärkten muss verhandelt werden, also darüber, ob die EU und Japan ihre Abschottungspolitik aufgeben. Die EU hat mit ihrer Agenda 2000 schon beschlossen, ihre Subventionspolitik im Prinzip beizubehalten - mindestens bis zum Jahr 2006. Damit bliebe ein wichtiger Markt für Entwicklungsländer und die US-amerikanische Agrarindustrie weiter abgeriegelt.

Auch über Dienstleistungen wird in jedem Fall verhandelt, alles andere ist noch unklar. Die EU will vor allem ihre Agrarpolitik verteidigen und schlägt deshalb eine lange Liste von Themen vor. Die Strategie: Durch Zugeständnisse in anderen Bereichen könnte sie Vorteile beim Thema Landwirtschaft erreichen. Für die Millenniumsrunde müsste dann auch gelten, dass keine neuen Verträge abgeschlossen werden können, bis Einigkeit zu allen Themen erreicht ist. Die USA hingegen befürworten Einzelverhandlungen, damit schon im anstehenden Präsidentschaftswahlkampf Verhandlungserfolge präsentiert werden können.

Handelspolitik soll nach der Wunschliste der EU zukünftig nicht mehr nur Zollpolitik sein, sondern auch Umwelt-, Sozial- und Entwicklungspolitik. Sogar ein multilaterales Abkommen über Investitionen könnte bei der WTO verankert werden, nachdem die Verhandlungen bei der OECD im letzten Herbst gescheitert sind. Romano Prodi, der neue Präsident der EU-Kommission, will Ende des Monats mit dem US-Präsidenten William Clinton eine gemeinsame Strategie für die Konferenz in Seattle erarbeiten. Gelingt dies, wäre eine wichtige Vorentscheidung für die Rolle der WTO in den nächsten Jahren getroffen.

Die aktuelle Konflikte sind durch klassische Zollsenkungs- und Liberalisierungsverhandlungen nicht lösbar. Muss Europa beispielsweise den Import von hormonbehandeltem Fleisch zulassen? Oder den von genetisch veränderten Organismen? Darf eine Regierung Produkte mit Strafzöllen belegen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt wurden? Welche Rechte werden den Transnationalen Konzernen zugestanden, und wie kann deren Macht sinnvoll eingeschränkt werden?

Auch wenn eine politische Lösung dieser Fragen dringend gebraucht wird - die WTO ist für komplizierte politische Themen wie Umwelt- und Verbraucherschutz oder die Privatisierung des öffentlichen Sektors der falsche Ort. Viele Nichtregierungsorganisationen (NGO) kritisieren denn auch, dass die Organisation zu undemokratisch sei, sich zu sehr auf das "Freihandel schafft Wohlstand"-Dogma versteife und von den Industrieländern dominiert werde.

Statt einer Millenniumsrunde müsse deshalb in Seattle eine WTO-Reform eingeleitet und die Benachteiligung der Entwicklungsländer abgebaut werden. Das deutsche NGO-Forum Handel und Entwicklung befürchtet auch, dass die WTO übermächtig wird und die Vereinten Nationen aushebelt.

Die WTO hat gute Chancen, den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank als Hass-Objekt Nummer eins der politischen Kampagnen zum Thema Weltwirtschaft abzulösen. Sie gefährde die Souveränität der Nation, sei eine Agentur zur Durchsetzung einer kapitalistischen Weltordnung oder einfach beides. Das ist die Botschaft aus den Anti-WTO-Flugblättern und Internet-Seiten.

Eines ist sicher: Bei der WTO werden - fern von den Parlamenten - politische Entscheidungen getroffen. Das ist die hauptsächliche Konsequenz aus dem umfangreichen Vertragswerk, das 1994 zu ihrer Gründung geführt hat und dessen viele Detailregelungen kaum jemand vollständig kennt. Zahlreiche Handelsstreitigkeiten landen vor dem Genfer Schiedsgericht der WTO, das zur Not auch ohne klare Richtlinien von den Mitgliedsländern Urteile zu politisch brisanten Fragen fällen muss.

Doch möglicherweise entscheidet die Ministerkonferenz, formal das höchste Organ in der WTO, in Seattle überhaupt nichts. Das befürchtet zumindest der neue Außenhandelskommisar der EU, Pascal Lamy, angesichts der Differenzen mit den USA. Sollte er Recht behalten, käme dies dem Eingeständnis gleich, dass die politische Kontrolle des Welthandels ein gescheitertes Projekt ist.