Mr. Coyote dreht frei

Günstige Prognosen für die EU: Der Euro-Kurs klettert wieder nach oben, der Dollar wird schwächer

Der Auftakt war fulminant. Wie eine Rakete schoß der Euro nach seinem Start am 1. Januar in den Währungshimmel - um anschließend wieder abzustürzen. Euro-Kritiker sahen sich bestätigt; die neue Währung schien allenfalls als Crash-Test-Dummy eine Funktion zu haben. Doch spätestens, nachdem die neuen Konjunkturzahlen für das Euroland bekannt gegeben wurden, haben sich die Skeptiker blamiert: Der Euro klettert wieder nach oben. Seit Anfang Juli hat er bereits über zehn Prozent an Wert gewonnen - Tendenz weiter steigend.

Innerhalb weniger Monate haben sich damit die konjunkturellen Bedingungen umgedreht. Nicht mehr der Euro, sondern der Dollar gilt jetzt als potentielles Weichei. Nicht Europa, sondern die US-Ökonomie wird als schwer kalkulierbarer Krisenfaktor angesehen.

Dabei ist die USA derzeit noch der globale Konjunkturmotor. Die Gewinne der Unternehmen sorgen für eine der längsten Börsen-Haussen in der US-Geschichte, der Dollar gilt als bombensichere Währung. Europa hingegen dümpelt müde vor sich hin.

Damit soll es nun vorbei sein. Auslöser für den plötzlichen Optimismus sind die guten wirtschaftlichen Aussichten für den Euroraum. Während das Wachstum in den USA im zweiten Quartal von 4,3 Prozent auf 2,3 Prozent zurückging, sind die Prognosen für die Zone zwischen Lissabon und Berlin wieder günstiger. So wird nach Angaben der Investmentbank JP Morgan die Industrieproduktion in Deutschland in der zweiten Jahreshälfte um 4,5 Prozent, in Italien um fünf und in Frankreich sogar um acht Prozent zulegen.

Die drei Länder erwirtschaften zusammen ungefähr drei Viertel des EU-Bruttoinlandsprodukts (BIP); allein Deutschland ist für 30 Prozent verantwortlich. Aber auch Länder wie Irland oder Portugal weisen hohe Wachstumszahlen auf, in Spanien will die konservative Regierung gar ein kleines Wirtschaftswunder entdeckt haben. Die Bank hat daher ihre Prognosen für den Euroraum von 3,1 auf 3,7 Prozent heraufgesetzt. Und für das Jahr 2000 wird mit einem ähnlich hohen Wachstum gerechnet.

Wegen der guten Perspektiven denkt man im Frankfurter Tower der Europäischen Zentralbank (EZB) bereits über eine Wende in der Geldpolitik nach. "Wenn Sie so wollen, beginnt sich eine leichte Tendenz zur Zinserhöhung in unsere Überlegungen allmählich einzuschleichen", sagte der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Wim Duisenberg, bereits Mitte Juli. Erst im Frühjahr hatte die EZB die Zinsen noch deutlich gesenkt, um der müden Konjunktur durch verbilligte Kredite einen Tritt zu geben. Das wird in Zukunft kaum mehr nötig sein.

Allein die Aussicht auf steigendes Wachstum - und damit auf höhere Gewinne - sorgt für prima Stimmung bei den Anlegern. Bisher verursachte die schlappe Konjunktur, vor allem in Deutschland, einen stetigen Abfluß von Kapital aus Europa in Richtung Nordamerika. Rund 60 Milliarden Euro wurden nach Angaben der FAZ in den letzten sechs Monaten in den USA angelegt. Die europäischen Anleger finanzierten damit, gemeinsam mit Kapitalgebern aus Japan und Südostasien, nicht nur die Hausse an der Wall Street, sondern nebenbei auch das gewaltige US-Handelsdefizit von rund 2oo Milliarden Dollar. Je mehr Kapital in die Vereinigten Staaten fließt, desto höher steigt auch die Nachfrage nach der US-Währung und damit deren Kurs. Umgekehrt sahen die europäischen Finanzminister in die Röhre und mußten hilflos beobachten, wie der Euro langsam aber sicher immer tiefer sank.

Eine Hilflosigkeit mit Kalkül. Denn ausgerechnet der schwächelnde Euro trägt erheblich zu dem erwarteten Aufschwung bei. Der niedrige Kurs verbilligte die europäischen Ausfuhren; mit zeitlicher Verzögerung schlägt sich dies nun in den Statistiken nieder.

Zudem verweist EZB-Chef Duisenberg stolz auf die "strukturelle Rigidität", mit der die EU-Staaten ihre Haushaltsprobleme angehen und damit günstige Voraussetzungen für Kapitalanleger schaffen. Vor allem der deutsche Finanzminister Hans Eichel zeigt mit seinem gnadenlosen Sparprogramm, daß auch in der neuen Eurozone von dem strikten Stabilitätskurs der ehemaligen Deutschen Bundesbank nicht abgewichen wird. Der kleine Schlenker auf dem EU-Gipfel in Köln, als die Finanzminister Italien erlaubten, das Haushaltsdefizit für das laufende Jahr notfalls von zwei auf 2,4 Prozent auszuweiten, war da allenfalls ein Schönheitsfehler. Und selbst ehemals renitente Staaten wie Griechenland haben die Stabilitätskriterien von Maastricht akzeptiert und eine rasante Aufholjagd gestartet: Staatsunternehmen wurden privatisiert, Steuern gesenkt und Sozialausgaben radikal gekürzt, der Arbeitsmarkt dereguliert.

Auch das sozialdemokratisch geführte Europa orientiert sich an einer wirtschaftsliberalen Politik, die vor allem günstige Voraussetzungen für Investitionen und Kapitalanleger schaffen soll. Der einzige Unterschied zu ihren zumeist konservativen Vorgängern liegt - wie in Deutschland und Großbritannien - darin, daß sie deren Wirtschaftspolitik konsequent weiterführen, allerdings mit deutlich geringerem gesellschaftlichem Reibungsverlust. Erst wenn die "Modernisierung" erfolgreich abgeschlossen ist, sollen soziale Probleme wie die Arbeitslosigkeit angegangen werden.

Diese Probleme haben die USA bereits weit hinter sich gelassen. Dafür gibt es dort Schwierigkeiten, von denen die Europäer noch nicht einmal zu träumen wagen. Denn als vergangene Woche in Washington die neuen Arbeitslosenzahlen bekannt gegeben wurden, war das Entsetzen groß. Mit einer rekordverdächtigen Quote von 4,3 Prozent herrscht Vollbeschäftigung in den USA - und damit schlechte Stimmung bei den Anlegern. Die Lohnkosten steigen mittlerweile schneller als die Produktivität, was wiederum die Inflation anheizt, die derzeit größte Sorge jenseits des Atlantiks. Der US-Notenbankchef Alan Greenspan hatte kurz zuvor betont, daß seine Behörde "prompt und mit Nachdruck" auf jedes Anzeichen zunehmender Inflation reagieren werde - was nur eine weitere Erhöhung der ohnehin schon hohen US-Leitzinsen bedeuten kann. Damit verschlechtern sich aber die Gewinnaussichten der US-Unternehmen: Die Kredite würden teurer, Investitionen würden zurückgehen.

Nun wächst die Sorge, daß die internationalen Anleger sich zurückziehen und ihr Kapital dorthin transferieren könnten, wo die Aussichten besser sind: nach Europa.

Mit dem US-Boom und dem starken Dollar könnte es damit schnell zu Ende sein. Der US-Boom wurde bisher vor allem von dem Glauben getragen, daß er stetig weitergeht. So tendiert die Sparquote der privaten Haushalte in den USA mittlerweile gegen Null. Wer flüssig ist, legt sein Geld wegen der hohen Rendite-Erwartung in Aktien an. Ziehen die internationalen Anleger ihr Kapital wieder ab, könnten die hohen Aktienkurse schneller fallen, als sie gestiegen sind. Und einige Millionen US-Amerikaner stünden vor der Pleite. Die Folgen für Amerika und die Weltwirtschaft wären jedenfalls "schlimmer als der Hurrican Mitch", kommentierte der Berliner Politikwissenschaftler Elmar Altvater in der taz.

Wenig optimistisch sieht auch der US-Ökonom Paul Krugman die Perspektiven der heißgelaufenen US-Wirtschaft. Diese sei vergleichbar mit dem Schicksal von Mr. Coyote, schrieb er vergangene Woche in einem Aufsatz. Die populäre US-Comicfigur jagt in Cartoons ständig einem Hasen hinterher und schießt dabei gerne übers Ziel hinaus. Erst einige Schritte hinter dem Abgrund stellt Mr. Coyote fest, daß außer heißer Luft nichts mehr unter seinen Füßen ist. Dann fällt er wie ein Stein hinunter. In Europa hätte er bessere Aussichten. Hier kann er mit seiner Jagd wieder von vorne beginnen.