Mit der Hacke in die Hauptstadt

Die brasilianische Landlosenbewegung und Gewerkschafter marschieren in Richtung Brasilia

"Wir demonstrieren gegen Privatisierungen, gegen das zunehmende Elend und die Arbeitslosigkeit im Land. Solange werden wir streiten, bis die Regierung auf unsere Forderung nach einer gerechteren Wirtschaftspolitik eingeht", beteuert Marina Santos, Sprecherin der brasilianischen Landlosenbewegung MST.

Vor zehn Tagen ist sie gemeinsam mit 1 000 weiteren Demonstranten in Rio de Janeiro aufgebrochen, um in 75 Tagen die 1 500 Kilometer bis zur Hauptstadt Brasilia zurückzulegen. Die Organisatoren hoffen, daß der Marsch auf über 100 000 Teilnehmer anwachsen wird - wie schon im März 1997, als die Landlosen ihren ersten landesweiten Protestzug veranstalteten.

Diesmal haben sich dem Aufruf des MST (Movimento Sem Terra) auch der Gewerkschafts-Dachverband CUT (Central Unica de los Trabalhadores) und die Vereinigung der Basisbewegungen CMP (Central de Movimentos Populares) angeschlossen. Bei der Ankunft in der Hauptstadt am 12. Oktober soll - wie im gesamten Subkontinent - an die Eroberung Amerikas erinnert werden, die sich zum 507. Mal jährt.

Der Protest der Landlosenbewegung richtet sich diesmal direkt gegen Präsident Fernando Henrique Cardoso. Noch vor kurzem wurde der frühere Soziologieprofessor von Ökonomen und Börsianern für seinen Wirtschaftskurs gelobt, mit dem er die Inflation in Brasilien besiegt und mittels einer harten Währung Investoren in das größte Land Südamerikas zurückgeholt habe.

Doch im Zuge der Börsenkrise verlor die brasilianische Währung Real im Frühjahr die Hälfte ihres Werts. Reales und spekulatives Kapital in Milliardenhöhe wurde aus Brasilien abgezogen, die letzten Hoffnungen auf einen breiteren Aufschwung schwanden. Seitdem sinkt Cardosos Popularität, zumal er seinen Sparkurs zu Lasten der Bevölkerung unbeirrt fortsetzt.

In den 120 Städten, die die Demonstranten passieren werden, wollen sie Versammlungen abhalten, um Alternativen zur neoliberalen Politik der sozialdemokratischen Regierung zu diskutieren. Die katastrophale Lage in den ländlichen Regionen, die den MST zu Beginn dieses Jahrzehnts gleichzeitig zur größten und radikalsten Bewegung Brasiliens machte, soll dabei im Mittelpunkt stehen.

Über eine halbe Million landlose Bauern halten derzeit unproduktive Ländereien im ganzen Land besetzt und fordern die Legalisierung ihrer Ansiedlung. Schätzungen zufolge haben vier Millionen Bauern kein Land und sind gezwungen, in die Slums der Städte überzusiedeln. Allein in den vergangenen vier Jahren haben 400 000 Bauernfamilien ihr Land und damit ihr Auskommen verloren.

Die extrem ungerechte Landverteilung - in Brasilien besitzt ein Prozent der Grundbesitzer knapp die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen - hatte die Regierung bereits 1995 veranlaßt, eine Agrarreform auf die Tagesordnung zu setzen. Doch die Ergebnisse des Ansiedlungsprogramms blieben dünn: In den vier Jahren der ersten Amtszeit Cardosos gelang es gerade mal, 200 000 Familien Land zuzuteilen. Mangels Krediten mußte ein Fünftel dieser Bauernfamilien zudem wieder aufgeben.

Besonderen Unmut unter den Landlosen erregt ein Weltbank-Programm, das Gelder für den Ankauf nicht genutzter Böden vorsieht, um es dann an landlose Familien zu verteilen. Anstatt unproduktive Ländereien zu enteignen und den Kleinbauern Kredite zu gewähren, so kritisiert der MST, würden die Großgrundbesitzer noch dafür belohnt, daß sie ihr Land brachliegen lassen. Zudem wurde inzwischen bekannt, daß die Agrarreform-Behörde in einigen Fällen völlig überhöhte Preise für den Landankauf gezahlt hat.

Der Druck des MST auf die Regierung hat seit Beginn dieses Jahres zugenommen. In nur vier Monaten wurden 250 neue Besetzungen bekanntgegeben, vor allem im wohlhabenden Süden des Landes. Auch gingen die Landlosen dazu über, produktive Ländereien zu besetzen, was die Auseinandersetzungen mit den Grundbesitzern und ihren paramilitärischen Wachmannschaften verschärfte. Seit Januar kamen dabei nach offiziellen Angaben 15 Landlose ums Leben. Die Dunkelziffer liegt vermutlich weit höher.

Die kritische Lage veranlaßte Cardoso, sich am 7. Juli auf ein seit zwei Jahren gefordertes Treffen mit der MST-Führung einzulassen. Der politische Erfolg dieser Zusammenkunft hatte freilich kaum praktische Folgen: Der Präsident wiederholte lediglich seine Bereitschaft, dieses Jahr 85 000 Familien anzusiedeln, was nach Meinung des MST viel zu wenig ist. So bleibt den verarmten Bauern nichts anderes, als mit Hacke und Spaten bewaffnet in Richtung Hauptstadt zu ziehen.