Mauern in Eickelborn

Forensische Psychiatrie ist immer ein Fall für Bürgerinitiativen. Auch wenn die Klinik der größte Arbeitgeber in der Gegend ist

Dr. Ulrich Kobbé öffnet mit zwei Schlüsseldrehungen die Panzerglastür zu einem Hochsicherheitstrakt namens Haus 31. "Befestigen Sie das Funkgerät in der Brusttasche oder am Gürtel. Wenn Ihnen jemand den Sender abreißt oder er sich länger als dreißig Sekunden in der Waagerechten befindet, wird Alarm ausgelöst." Jeder Mitarbeiter trägt einen solchen Sender bei sich.

Wer in Haus 31 landet, hat in der Regel Verbrechen gegen Leib und Leben anderer begangen. Hier leben diejenigen, die in den Boulevardmedien "Bestien" genannt werden: Vergewaltiger, Brandstifter, Kindermörder. Für Ulrich Kobbé sind es Patienten. Der 46jährige Psychotherapeut ist erfahren im Umgang mit psychisch schwer gestörten Persönlichkeiten. Die meisten hier in Eickelborn werden unter gerichtlicher Kontrolle zwangsbehandelt. Kontrolle ist notwendig - Vertrauen aber für die therapeutische Arbeit unerläßlich.

Auf den Stationen: Abhängen, Langeweile. Die meisten Männer haben lange Odysseen durch Heime, Knäste und Psychiatrien hinter sich. Wer einmal in Haus 31 weggeschlossen wird, bleibt jahrelang im forensischen Niemandsland zwischen Knast und Allgemeiner Psychiatrie. Wie gefährlich ist es hier wirklich? "Über Eickelborn wird viel phantasiert", sagt Kobbé. "Es ist die Faszination des Grauens. Tatsächlich ist unsere Arbeit völlig unspektakulär. Wir geben unseren Patienten eine Struktur, die sie innerlich nicht hinreichend haben. Sie können sich auf der Station bewegen, diese aber nicht verlassen. Das vermittelt manchem eine Form von Sicherheit, die er braucht, um mit dem eigenen schwierigen Anteil umgehen zu können."

Unter den bundesweit 71 psychiatrischen Krankenhäusern, die seelisch kranke Straftäter behandeln, nimmt diese Gefängnisklinik eine Sonderstellung ein. Ein Zehntel der rund 3 500 forensischen Patienten in Deutschland werden allein im Westfälischen Zentrum für Forensische Psychiatrie (WZFP) in Lippstadt-Eickelborn therapiert. Die Aufnahmekapazität ist zur Zeit um 15 Prozent überschritten. Ein Ausweg aus der drückenden Enge wäre eine Dezentralisierung der Anstalt. Das hätte den Bau neuer Straftäterkliniken zur Folge.

Die Eickelborner Klinik stand zuletzt 1994 in den Schlagzeilen. Nur wenige Schritte vom Anstaltsareal entfernt, wurde die Grundschülerin Anna Maria Eberth das Opfer eines Sexualverbrechens. Der forensische Patient Dirk S., ein Freigänger aus Haus 3, mißbrauchte und tötete sie in der Nähe ihres Elternhauses. Die Reaktion war heftig. Pfleger und Schwestern erinnern sich an einen regelrechten Spießrutenlauf. Sie wurden beschimpft: "Na, gehst du wieder Schweine füttern?" Autos wurden demoliert, Häuser von Angestellten besprüht, und die Bürgerinitiative um den Vorsitzenden Graf von Plettenberg forderte tiefgreifende Veränderungen im Umgang mit den Patienten.

Auch wenn derzeit scheinbare Ruhe eingekehrt ist, sitzen Mißtrauen und Verunsicherung tief. "Natürlich ist der Zwischenfall schrecklich", sagt Kobbé. "Aber der zum Teil rufmörderische Umgang mit dieser Klinik beeinträchtigt Patienten in ihrer Hoffnung und die Mitarbeiter in ihrem Engagement."

Die Dauer der Zwangstherapie soll sich an der vom Betreffenden ausgehenden Gefahr bemessen. Im Klartext: Sind für eine Straftat sechs Jahre vorgesehen, können daraus unter Umständen 15 Jahre und mehr werden. "Hier kommt nur jemand raus", sagt der Eickelborner Soziologe Bernd Dimmek (46), "der seine Therapie erfolgreich abgeschlossen hat."

Olaf Th., seit dem elften Lebensjahr Junkie, ist kurz davor. "41mal Entzug, schwere Körperverletzung, ich wollte einen Chefarzt erwürgen, Knastaufenthalte in Werl, Köln, Bielefeld." Das Dreibettzimmer ist auffallend aufgeräumt. Jeder Patient hat ein Bett, einen Tisch und einen Schrank. An den Wänden Seidenmalereien von Olaf Th. - und das Foto auf dem Tisch? "Meine Verlobte mit ihrem Kind", strahlt Olaf Th. "Wir werden bald heiraten, dann kann ich das alles hier vergessen."

Vergessen darf der 40jährige Mathematiklehrer Uwe A. aus dem Ruhrgebiet noch lange nicht. Er muß tief im Gedächtnis graben, warum die innere Bremse, jemanden zu töten, bei ihm versagt hat. Er hat vor drei Jahren seine "Intimpartnerin getötet". Zögerlich spricht er darüber und versucht, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Wenn er heute schon wüßte, was ihn veranlaßt hat, zum Messer zu greifen, "wäre ich einen großen Schritt weiter".

Die Distanz zwischen Forensik und den Dorfbewohnern ist groß. Was soll man auf die ständig wiederholte K.o.-Frage antworten: Was würden Sie denn tun, wenn Ihr Kind einem Sexualverbrecher in die Hände fiele? "Ich würde ihn erschlagen", sagt Pflegedienstleiter Wolfgang Trampe dann. "Ich hoffe aber, daß ich die menschliche Größe hätte, es nicht zu tun. Es ist schwer, weil kaum einer begreifen will, daß jeder ein bißchen an unseren Patienten versagt hat."

Trampe arbeitet seit 15 Jahren hier. Er ist heute für 410 Schwestern und Pfleger zuständig. Er kam nach Eickelborn, um als Mitarbeiter der Koryphäe für forensische Psychiatrie, Prof. Wilfried Rasch, eine eigenständige, von der Allgemeinen Anstalt abgetrennte Straftäterklinik aufzubauen. Bis dahin galten Psychopathen, Neurotiker und Straftäter mit sexuellen Abweichungen als hoffnungslose Fälle und wurden innerhalb der "Irrenanstalt" im berüchtigten Bewahrhaus nach dem Motto: Stillspritzen, Zelle abschließen und Schlüssel wegwerfen, verwahrt.

Die Begriffsmaske, unter der sich ein "Irrenwärter" zum Pfleger, die "Heil- und Pflegeanstalt für gefährliche Gewohnheitsverbrecher" zur forensischen Psychiatrie umwandelten, verdeutlicht noch lange keine ideologische Kurskorrektur des Menschenbildes. Für die meisten Juristen, die am Ende das Sagen in Eickelborn haben, bleiben die Patienten aber auch weiterhin Kriminelle, die "wegen Schwachsinns oder wegen einer anderen schweren seelischen Abartigkeit" in der Spezialanstalt "zur Besserung und Sicherung" zwangstherapiert werden. Auch Juristen haben, wie Wilfried Rasch in seinem Gutachten über Eickelborn schrieb, "laienhaft-irrationale Vorstellungen von der Gefährlichkeit und angeblichen Unberechenbarkeit psychisch Kranker", die sich dann im äußeren Charakter der Hochsicherheitsklinik widerspiegeln: Stacheldrahtkäfige, Videokameras, meterhohe Mauern, Infrarotsender. Wer unter diesen Voraussetzungen arbeiten kann und darüber hinaus noch in der Lage ist, ein entspanntes therapeutisches Milieu aufzubauen, muß extrem belastbar sein und ein Interesse am Menschen haben, das über das Helfersyndrom hinausgeht.

Seit dem gewaltsamen Tod von Anna Maria Eberth pendeln zwischen den Häusern Gefangenentransporter, in denen die Patienten zur Arbeit oder zur Therapie gebracht werden. Außerdem setzte die Bürgerinitiative durch, daß es keine Ausführungen mehr gibt. Statt dessen müssen die Patienten in ihre Heimatorte im Ruhrgebiet gebracht werden, wo ihre Begleiter sie dann für die Dauer ihres Freigangs "frei laufen lassen". "Wir wollen im Ruhrgebiet Stützpunkte installieren", sagt Wolfgang Trampe. "Aber Wohnungen anzumieten, ist äußerst schwierig. Wenn Vermieter hören, woher wir kommen, machen sie sofort die Schotten dicht."