La bonne raison

Ideologiefrei, aber ein Ideal vor Augen - die französische Monatsschrift Le Monde des Débats propagiert die Debatte der Vernünftigen

Frankreichs Intellektuelle haben ein neues Forum, um miteinander über Politik und Kultur zu streiten: Die Monatszeitung Le Monde des Débats. Fünf Ausgaben sind seit dem Start im Frühjahr dieses Jahres erschienen. Den Titel erwarb das Blatt von Le Monde. Die hatte eine Publikation dieses Namens 1995 eingestellt. Die neue Le Monde des Débats allerdings ist redaktionell vom Flaggschiff der französischen Presse vollkommen unabhängig.

Gegründet von einer Gruppe von Akademikern, erscheint die "Welt der Debatten" zum Preis von umgerechnet 7, 50 Mark in einer Auflage zwischen 25 000 und 30 000 Exemplaren. Obgleich man bisher noch wenig über das Publikum weiß, vermutet der Soziologe und Le Monde des Débats-Chefredakteur Michel Wieviorka, daß die Zeitschrift vor allem von Akademikern und einem politisch aktiven Personenkreis gelesen wird. Le Monde des Débats versteht sich als Forum, um gesellschaftliche Debatten interdisziplinär zu organisieren und unterschiedliche gesellschaftspolitische Ansätze miteinander zu verbinden. Die Zeitschrift, die mit fünf Redakteuren sowie einem 20-köpfigen Redaktionsrat arbeitet, sei, so Wieviorka, ein "intellektuelles Projekt", kein politisches; man verbreite keine ideologischen Positionen, sondern gebe dem Leser lediglich den Schlüssel, den er brauche, um sich bestimmte Themenbereiche erschließen zu können.

Die meisten Diskussionen beziehen sich auf soziale und politische Probleme. Einen gewissen Stellenwert räumt man der Literatur ein, die klassischen Naturwissenschaften kommen nur am Rande vor, etwa in einem Beitrag zur zeitweiligen Koexistenz von Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen. Naturwissenschaftliche Aspekte spielen aber auch eine Rolle in Diskussionen über den Embryonen-Schutz sowie in einem Beitrag über die Einrichtung von DNS-Karteien bei Polizei und Justiz.

Mit Ideologien wollen die Débats-Gründer nichts zu tun haben, ein Ideal aber will man hochhalten und beruft sich auf eine Debatte unter Vernünftigen. Unter der Überschrift "Was heißt Debattieren?" erläutert Wieviorka in der Startausgabe seine Konzeption der "interpersonellen, interkulturellen, aber auch sozialen und politischen Kommunikation". Dieser Diskurs solle dazu beitragen, die Herausforderungen, die die geschichtliche Periode der Öffnung bedeute, anzunehmen und den Wandel produktiv zu gestalten. "Wir verlassen eine Epoche, in der das kollektive Leben sich um Gegensatzpaare herum zu organisieren schien: Kalter Krieg, Klassenkampf. Diese Periode geht zu Ende, und mit ihr bestimmte Konfrontationsformen." In gesellschaftlicher und politischer Hinsicht ist die Abgrenzung nach links, zu radikalisierten sozialen Bewegungen, ebenso scharf wie nach rechts, zum Nationalismus und seinen Mythen.

Im Leitartikel der zweiten Ausgabe propagiert Wieviorka das "Ende der grauen Jahre", wie in Frankreich die Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und zugespitzter sozialer Konfrontation gennat werden. Anzeichen dafür, daß diese Phase zum Abschluß kommt, sei die Wandlung des sozialliberalen und die Regierungspolitik unterstützenden Gewerkschaftsverbands CFDT, die Annäherung der bisher KP-nahen Gewerkschaft CGT an die CFDT und die Selbstauflösung der CFDT-internen Linksopposition. Von dieser Entwicklung sollten sich, meint Wieviorka, auch andere soziale Akteure inspirieren lassen, z.B. die Arbeitslosenbewegungen, statt auf medienwirksame "Coups" zu setzen - ein Seitenhieb auf die Besetzungsaktionen der Arbeitslosen im Winter 1998.

Noch simpler erscheint die Grundidee vom Dialog der Vernünftigen in den Texten des Soziologen und Le Monde des Débats-Autors Alain Touraine, der in der ersten Ausgabe unter dem Titel "Die allgemeine Niederlage der Ultras" den von ihm ausgemachten Niedergang des französischen Neofaschismus zum Anlaß nimmt, um festzustellen, daß die "Ultras" aller Seiten auf dem Rückzug seien, die Rechtsextremen ebenso "und aus denselben Gründen" wie "die Ultralinke" - das sind "die Journalisten und Demagogen, die sich von einer Erhebung des kleinen Volkes getragen fühlten".

Grund für den Niedergang der "Ultras" ist nach Touraine, daß die Jospin-Regierung in der Praxis die "demagogischen" Vorwürfe der "Unglückspropheten" widerlegt habe, denenzufolge Regierungs-Linke und -Rechte dieselbe Politik machten, weil ohnehin die Märkte die Politikinhalte diktierten. Indem die Jospin-Regierung sowohl den Amsterdamer EU-Vertrag ratifiziert als auch die Arbeitslosigkeit gesenkt habe, hat sie bewiesen, was Touraine zufolge zu beweisen ist und das notwendige Grundrezept aller Politik darstellt: "Man kann sowohl in der ökonomischen Konkurrenz bestehen als auch die Armut bekämpfen, man kann Modernität und Gerechtigkeit miteinander verbinden."

Diese These kehrt in mehreren der Beiträge Touraines wieder. In der Juni-Ausgabe konstatiert er in einem Text über das "endgültige Ende des Gaullismus", heute gebe es in Frankreich "nur noch Platz für eine Mitte-Rechts-Politik (Ö) und eine Mitte-Links-Politik, die aktuell durch die Regierung vertreten wird". Zum Mitte-Rechts-Pol zählen aus Touraines Sicht sowohl Tony Blairs "Dritter Weg" als auch Gerhard Schröders "Neue Mitte"; die New Labour-Politik könne deshalb nicht zur linken Mitte gezählt werden, weil ihr jede sozialpolitische Ambition fehle, begründet Touraine.

Die Le Monde des Débats-Macher rechnen sich einem Spektrum zu, das sie als "moderne Linke" bezeichnen. Im Gespräch mit Jungle World erklärt Wieviorka, diese "moderne Linke" gebe zwar nicht die "politische Linie" vor, bilde aber das "Gravitationszentrum" der Publikation, was sich in den Leitartikeln, den Chroniken Alain Touraines, der Themenwahl und in der Art und Weise, wie die Debatten angelegt sind, widerspiegeln soll.

Wer sind nun die Vernünftigen, mit denen sich debattieren läßt? Der grünen Partei sind in der Nummer 3 sieben Seiten gewidmet, drei davon nimmt der grüne Spitzenkandidat Daniel Cohn-Bendit - im Gespräch mit dem sozialdemokratischen Leitartikler Jacques Julliard (Le Nouvel Observateur) - in Anspruch. Und das Titelthema der Nummer 4 besteht aus einer Debatte zwischen den Chefs der beiden sich einander annähernden Gewerkschaftsbünde CFDT (Nicole Notat) und CGT (Bernard Thibault). Deutlicher konnte man nicht demonstrieren, wer die "moderne Linke" ist.

Das Grundkonzept eine "Kommunikation unter Vernünftigen" hat auch dazu geführt, daß einige der großen Debatten in Le Monde des Débats nur aus einem verengten Blickwinkel heraus geführt wurden. Dies gilt insbesondere für die Diskussion um den Kosovo-Krieg. In der ersten Nummer, die nach Ausbruch des Krieges erschien, waren lediglich Kriegsbefürworter sowie Skeptiker vertreten, entschiedene Gegner der Nato-Intervention kamen dagegen nicht zu Wort.

Für die "humanitäre Intervention" sprach sich - in einem Nachdruck seines Beitrags in der Süddeutschen Zeitung - der Soziologe Ulrich Beck aus, der ein neues Auschwitz verhindern wollte. Die "Ja-aber"-Position nahm der Schweizer Journalist Christophe Gallaz mit einigen prinzipiellen philosophischen Anmerkungen ein, ohne die Argumente der Kriegsbefürworter konkret in Frage zu stellen, während der Leitartikel von Wieviorka konstatierte, es handele sich um eine schmerzhafte, aber unvermeidliche Entscheidung.

In der folgenden Ausgabe bestand der einzige nennenswerte Beitrag im Nachdruck eines Artikels des Kriegsbefürworters Jürgen Habermas aus der Zeit. Erst in der Juli/August-Nummer fanden sich einige Beiträge, die freilich stets Detailaspekte behandelten und den Konsens nicht gefährdeten.

Interessant wird es in Le Monde des Débats eher abseits der großen Debatten. So findet sich z.B. ein in der ersten Ausgabe veröffentlichtes Gespräch zwischen einem französischen Politologen und einer türkischen Soziologin zum Thema "Niedergang des Islamismus", das ebenso erhellend ist wie die in der aktuellen Ausgabe veröffentlichten Beiträge einer amerikanischen und eines französischen Politologin zum Thema "Polizeistaat USA".

Enttäuschend wiederum ist die Titeldebatte der aktuellen Ausgabe, in der Francis Fukuyama zehn Jahre nach Erscheinen seines Buches "Das Ende der Geschichte" auf seine Thesen über die liberal-demokratische Marktwirtschaft als Endstadium der Menschheitsentwicklung zurückkommt. Während Fukuyama eine ebenso kritikwürdige wie kohärente Sichtweise auf das Weltgeschehen des zurückliegenden Jahrzehnts aufzeigt, lassen die Ausführungen seiner Gesprächspartner jede Originalität vermissen: Die Welt der Debatten bleibt übersichtlich.