Ein Paradies für Hedonisten

Die Aufhebung der Öffnungszeiten ist ein Angriff auf das deutsche Wertesystem.

Kapitalismus ist gar nicht so schlecht. Hat er doch den arbeitenden Deutschen so einiges anzubieten: ein bißchen Arbeit, ein bißchen Sozialstaat, ein bißchen Wohlstand, ein bißchen Gemütlichkeit. Für alle etwas eben.

Das Angebot kann sich wirklich sehen lassen: Es gibt viele schöne Waren, die man zwar nicht braucht, aber trotzdem gerne besitzen möchte; wer fleißig auf sein Bausparkonto eingezahlt hat, darf sich irgendwann sein eigenes Traumhaus bauen - mit Garage, Garten und allem, was sonst noch dazugehört -, und man kann sich eine tolle und ganz individuelle Privatsphäre einrichten, mit mehr oder weniger sinnigen Hobbys.

Das alles funktionierte natürlich nur, weil der Kapitalismus bisher so nett war und den heiligen arbeitsfreien Sonntag respektierte. Während unter der Woche die kapitalistische Ausbeutung wütete, blieb am Sonntag den ganzen Tag Zeit für so lebenswichtige Dinge wie Kirchgang, Familientreffen, Mittagessen und fürs Heimwerken in den eigenen vier Wänden. Dank dem sogenannten Wirtschaftswunder, der Fortsetzung der Volksgemeinschaft mit anderen Mitteln, wurde diese vermeintlich kapitalismusfreie Zeit sogar noch ausgedehnt: "Samstags gehört Papi mir" war die Gewerkschaftsparole zum Schutze deutscher Familienstrukturen, die das biblische Reglement "Am siebten Tage sollst Du ruhen" noch überbot.

Mit Reihenhaus im Ruhrgebiet, dem hübschen Volkswagen und einem intakten Familienleben war alles in bester Ordnung, damit aber soll es nun vorbei sein: Der Kapitalismus schickt sich an, den Sonntag zu ökonomisieren, ihn hemmungslos der Warengesellschaft unterzuordnen und damit alles zu zerstören, was sich der deutsche Durchschnittsspießer aufgebaut hat. Der heilige Sonntag soll zum gewöhnlichen Einkaufstag werden - das ist fast so dramatisch wie die Aufhebung des Sonntagsbackverbotes vor einigen Jahren.

Wird die bisherige Werteordnung von Kapitalismus derart angegriffen, dann schreien sie vor Empörung auf: Gewerkschaften, Kirchen und Konservative. Darf der Kapitalismus seine vielen Waren künftig am Sonntag nicht nur in Tankstellen und Bahnhöfen, sondern auch ganz regulär in Geschäften verkaufen, so befürchten sie, dann wird der entfesselte Kapitalismus alles Zwischenmenschliche zerstören. Und die PDS setzt routinemäßig nach: Im Osten hätte es sowas nicht gegeben. Da war die Welt noch in Ordnung.

Die Losung ist also klar: Sozialstaat oder Barbarei? Bei dem ganzen Gezeter geht es gar nicht um die Ladenöffnungszeiten, sondern um die demonstrative Verteidigung einer illusionären Vorstellung: Daß der Kapitalismus durch staatliche Verordnungen zu reglementieren und damit menschlicher zu machen sei. Die Ladenbesitzer und Kaufhausketten beschweren sich hingegen darüber, daß ihnen per Gesetz verboten ist, am arbeitsfreien Sonntag die gesamte Warenpalette zum Kauf feilzubieten. Sie wollen logischerweise alle Möglichkeiten zur Gewinnmaximierung auschöpfen - und dazu gehört eben auch der Sonntagsverkauf. Jemanden dafür zu kritisieren ist in etwa so töricht wie einer Kuh vorzuwerfen, daß sie mit der Produktion von Milch die kapitalistische Warenproduktion unterstütze.

Die Forderung nach dem verkaufsoffenen Sonntag ist also eine unspektakuläre Angelegenheit, aber in Deutschland macht man trotzdem ein Riesengeschrei darum. Es hat doch alles bestens funktioniert, über den konsumfreien Sonntag herrschte ein nationaler Konsens - angegriffen nur von einigen anglophilen Wirtschaftsliberalen. Ein Ex-Linker, Welt-Redakteur Thomas Schmid, weiß auch, warum diese Übereinkunft jetzt zur Disposition steht: "Weil es nicht mehr genug Menschen zu geben scheint, die sie teilen. Gesetze aber sind gegen Werte machtlos."

Eine Veränderung des bisherigen pseudo-menschlichen Wertesystems, des gemütlichen deutschen Kapitalismus, gilt als üble "Amerikanisierung". Darauf folgt das Gejammer vom angeblichen US-Kulturimperialismus - wer sonst soll an einer Verschlechterung schuld sein, wenn nicht USA und Wall Street als Inbegriff des deregulierten und globalisierten Kapitalismus. Und das, obwohl man sich dem so lange widersetzt hatte: Unter allen Staaten der Europäischen Union haben Deutschland und Österreich die rigideste Regelung zum Ladenschluß. Eingeleitet hatte die Liberalisierung in Europa 1966 übrigens das für sein relativ ausgebautes Sozialsystem bekannte Schweden.

Das alles wäre schon Grund genug, den Sonntagsverkauf zu fordern. Es gibt aber einen weiteren Vorteil geradezu zivilisatorischer Natur: Wer sonntags im Kaufhaus antanzen muß, um die Regale aufzufüllen, die Kasse zu bedienen oder auch nur ein wenig sauberzumachen, hat Samstagabend keine Zeit mehr, Jagd auf Ausländer zu machen. Ein gutes Argument dafür, aus der ehemaligen DDR ein 24-Stunden-Einkaufsparadies zu machen - sieben Tage die Woche. Damit wären wohl auch die Jammerossis von der PDS endlich ruhiggestellt.

Und schließlich - soviel Hedonismus und Konsumgeilheit muß sein - ist es einfach super, auch am Sonntag einkaufen zu können. Wenn man nicht gerade arbeiten muß.