Wende-Romans Bruder

Warum wollen plötzlich alle in oder über Berlin schreiben? Das Schicksal des Berlin-Romans ist, daß er nicht existiert.

"Ballin, wennz da nich jeben würd, wür'ick dir jlatt erfinden." So oder ähnlich emphatisch pflegt der Ur-Berliner von Zeit zu Zeit seiner Überidentifikation mit der Stadt, in die er zufällig hineingeboren wurde, Ausdruck zu verleihen. Zu seinem Glück und zum Leidwesen manch anderer gibt es Berlin tatsächlich, und man braucht es nicht erst zu erfinden. Man kann einfach herumlaufen, sich alles ansehen, alles aufschreiben, und fertig ist der Berlin-Roman.

Sollte man meinen. Aber ganz so einfach scheint es dann doch wieder nicht zu sein. Obwohl nach dieser Heuristik in den letzten Jahren unzählige Bücher geschrieben wurden, die die Stadt zum Thema haben, und auch ein erkleckliches Quantum davon in Druck gelangte, war der ultimative Berlin-Roman anscheinend nicht dabei, eben jener, der die Schmock-Hoffnung auf eine sich mit der politischen Umwälzung nach 1989 ergebende neue Literatur eingelöst hätte.

Als kleiner Bruder des Wende-Romans teilt der Berlin-Roman neuen Schlags dessen Schicksal, daß er auf absehbare Zeit wohl nicht abgeliefert werden wird und derweil als Chimäre durch die Feuilletons geistern muß. "Kann man überhaupt von einer Berlin-Literatur sprechen? Warum boomt zur Zeit Literatur aus Berlin, warum dieser Hype junger AutorInnen, die in Berlin leben und verstärkt nach Berlin ziehen?" fragten sich dergestalt verunsichert Germanistik-StudentInnen an der Freien Universität und luden in der vergangenen Woche zu einer vorläufigen Bestandsaufnahme von "Berlin-Literatur 10 Jahre nach dem Mauerfall".

Erst lasen Annett Gröschner, Kathrin Röggla und Peter Wawerzinek Texte vor, von denen nur Rögglas "Love-Parade"-Impressionen einen eindeutigen Bezug zum heutigen Berlin erkennen ließen. Dann wurde diskutiert, u.a. mit Matthias Gatza, Lektor des Berlin Verlags, und Jörg Magenau, bis vor kurzem taz-Literaturchef, jetzt im neuen Berlin-Teil der FAZ für Literatur zuständig. Auffällig einig waren sich alle, daß es mit der bloßen Szene- und Lifestyle-Kolportage nicht getan sei. Dabei entstehe allenfalls eine Art von Journalismus, mit Literatur könne das nichts zu tun haben.

Mag sein, daß die beiden Medien-Fakes "Berliner Republik" und "Generation Berlin" nicht als Sujet für nicht-ephemere Literatur taugen, daß sich Szene-Hype und Literatur regelrecht ausschließen. Tatsächlich bildet diese Sorte aber das Gros der als Berlin-Literatur apostrophierten Neuerscheinungen. Junge Menschen aus der Provinz stürzen sich ins Berliner Nachtleben und schreiben unter dem wahnsinnigen Eindruck der pulsierenden Metropole, wie ihnen der Grünschnabel gewachsen ist.

Erstaunlicherweise verkauft sich das auch noch, weshalb bald jeder Berliner Verlag darum bemüht ist, nach Möglichkeit eine junge, fotogene und Talkshow-kompatible Autorin im Programm zu führen, die sachkundig über Techno, WG-Leben und den Gebrauch von Vibratoren Auskunft zu geben weiß. Man kann sagen, das ist Pop und hat mit Literatur wenig zu tun. Oder man kann beides in eins setzen und damit das landläufige Mißverständnis über Pop-Literatur fortschreiben.

Wahrscheinlich macht es wirklich keinen relevanten Unterschied, daß heute nicht mehr, wie in Erich Kästners großartigem Berlin-Roman "Fabian" aus den Dreißigern, Kognak-Soda getrunken wird, sondern Caipirinha. Auch Kathrin Röggla blieb eine Erklärung schuldig, was man sich denn so genau unter einer "Neunziger-Jahre-Erektion" vorzustellen habe. Annett Gröschner bedauerte hingegen ein wenig, daß die Stadt keinen richtigen Fluß habe, "aber das wird sich wohl auch nicht ändern". Sie meinte nicht den allgemeinen flow, sondern einen richtigen Fluß, "der auch mal über die Ufer tritt".

Der klassische Topos des Metropolen-Romans, die akzelerierte Wahrnehmung und die Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Eindrücke, ist für Berlin mit Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" von 1929 längst erkundet. Deshalb wirken auch alle literarischen Versuche, angesichts der neuen Verhältnisse in Berlin den Flaneur der Zwanziger zu reanimieren, so schal und abgestanden. Den Baustellen am Potsdamer Platz ist mit Psychogeographie allein nicht beizukommen, wie die austauschbaren Impressionen und unoriginellen Metaphern, die immer wieder in Anschlag gebracht werden, zeigen.

Eine Ausnahme bildet auf diesem Gebiet vielleicht Rainald Goetz' Internet-Tagebuch "Abfall für Alle", in dem der großangelegte Selbstversuch, die Eindrücke der Stadt ein Jahr lang auf sich einprasseln zu lassen, dank der Echtzeitumsetzung im neuen Medium noch einmal gelang. Spätestens, wenn die gesammelten Tagebucheintragungen im Herbst bei Suhrkamp als dickleibiges Buch erscheinen, wird sich zeigen, daß damit keine Literatur entsteht, die das Zeug zum Überdauern hat. Also doch erfinden?

Aus den Ruinen der Gegenwart ein Berliner Paralleluniversum konstruieren, wie es Robert Harris mit der Vergangenheit gemacht hat? Wir erinnern uns: Harris' "Vaterland" spielt 1964 - unter der Prämisse, daß Hitler den Krieg gewonnen hat. Die Pläne Albert Speers für Berlin inklusive der Großen Siegeshalle des Deutschen Volkes sind umgesetzt, und vor der durchfaschisierten Architekturkulisse entwickelt sich ein spannender Krimiplot ...

Wahrscheinlich kann so etwas nur einem Engländer gelingen. Wenn Neu-Berliner sich daransetzen, Berlin neu zu erfinden, kommt meist nur bemühter Quatsch dabei heraus. Tim Staffels "Terrordrom" ist die apokalyptische Vision des atomisierten Bürgerkriegs, die man im amerikanischen Science Fiction schon mal besser gelesen hat. Ähnlich, nur ermüdender, wenn auch nicht ganz so abgeschmackt verfährt Alban Nicolai Herbsts phantastischer Roman "Thetis. Anderswelt".

Auf knapp 900 Seiten entwirft er ein nachsintflutliches Berlin, das "Buenos Aires" heißt und sich über die noch nicht überfluteten Teile Zentraleuropas erstreckt. Eine hochkomplizierte Verschwörungsgeschichte mit Fantasy-Einsprengseln macht die lange Distanz aus. Weil das so recht niemanden interessierte, durfte sich Herbst das Buch kürzlich im Café Silberstein, das auch drin vorkommt, einen Monat lang selbst vorlesen. Ganz zu schweigen an dieser Stelle von Michael Kleebergs ähnlich opulenter Schwarte "Ein Garten im Norden", worin im Sinne eines frühen Love Parade-Mottos ("Friede, Freude, Eierkuchen") endlich mal eine positive Utopie für die Berliner Republik formuliert wird. Davon läßt man wohl besser die Finger.

Was aber dann? Kann es angehen, daß die ganze Schar der Schreiber und Schreiberinnen nach Berlin zieht, um nicht über Berlin zu schreiben? Jedenfalls nicht, wenn sie Aussicht auf Veröffentlichung haben will. Die Distanzierung von Berlin als Erfolgsrezept? Nach dem Zuzug von außen nun die innere Emigration? So sieht's wohl aus, jedenfalls wenn man den Disputanten in der FU Glauben schenken möchte. Teile der Kritik scheinen ohnehin der Großstadt überdrüssig, und Jörg Magenau wiederholt noch einmal die Parole, die er bereits in einer taz-Literaturbeilage ausgegeben hatte: Zurück zur Provinz! Der Lektor des Berlin Verlags, Matthias Gatza, beklagt sich, daß er jeden Tag mindestens zehn Manuskripte auf den Tisch bekomme, die die Hauptstadt zum Thema hätten - der unglücklich gewählte Verlagsname! -, dabei sei im Haus bisher noch kein einziger Berlin-Roman erschienen, und das werde auch voraussichtlich so bleiben.

Wenn, wie auch Verlagschef Arnulf Conradi nicht müde wird zu beteuern, die junge deutsche Literatur in Berlin entstehe, ist damit also ausschließlich die materielle Basis gemeint: die gut funktionierende Cluster-Ökonomie aus Autoren, Verlagen und Presse, das üppige Stipendienangebot, das informelle Networking im Literarischem Colloquium am Wannsee und beim "Brot und Rosen"-Italiener am Friedrichshain.

Als Sujet für Literatur tauge Berlin dagegen wenig: zu platt, zu vordergründig, zu abgenudelt. Daß das so pauschal nun auch wiederum nicht stimmen kann, beweisen zahlreiche Gegenbeispiele der jüngeren Vergangenheit, von denen Judith Hermanns "Sommerhaus, später" aus dem vergangenen Jahr nicht nur den Kritikern gefiel, sondern auch zum Bestseller wurde.

Auch Thomas Kapielski wäre hier zu nennen, und auch auf Kathrin Rögglas neues Buch darf man gespannt sein. Daneben gibt es noch eine Reihe junger Autoren und Auorinnen, die gewissermaßen mit dem Berlin-Hype groß geworden sind und ihm längst nicht mehr aufsitzen. Sie schreiben Geschichten oder Bücher, wie sie sich Peter Wawerzinek als den idealen Berlin-Roman vorstellt: "Die ersten zwei Drittel spielen in der Küche, und die Leute stellen Mutmaßungen über die Stadt an. Im letzten Drittel dürfen sie dann meinetwegen rausgehen und das mit der Realität abgleichen."

Dazu gehört zweifellos, sich in die Mikrostruktur des Alltags hineinzuversenken, in die die Berliner Eventkultur nur sehr vermittelt vordringt. Dazu gehört ein Interesse an urbanen Vorgängen, das sich nicht auf dem bloßen Sinnestaumel und dem "existentiellen Besserwissen" ausruht, das Diedrich Diederichsen in "Der lange Weg nach Mitte" beschreibt, allerdings ohne sich dabei auch nur in Ansätzen mit der neuen Berliner Literatur zu befassen. Dazu gehört zwangsläufig auch das "Prollige", wie Rainald Goetz es nennt, durchaus nicht abwertend gemeint. Das Prollige hat nebenbei den Vorteil, daß man es nicht erst erfinden muß. Das gibt es in Berlin wahrlich zur Genüge.