Machtkampf in Ruinen

Die Clans übernehmen die Funktionen des tschetschenischen Staates und setzen den Präsidenten unter Druck

Der tschetschenische Minister für Staatssicherheit war nur eine Nacht in Haft. Einen Tag nach seiner Festnahme in Moskau ließen die russischen Behörden Turpal-Ali Atgerijew am Samstag wieder laufen. Dabei hatte die Generalstaatsanwaltschaft gegen ihn schweres Geschütz aufgefahren: Banditentum, Geiselnahme, Terrorismus. Er sei im Januar 1996 in den Angriff auf die Stadt Kisljar in der Nachbarrepublik Dagestan verwickelt gewesen. Dort hatten Rebellen unter dem tschetschenischen Kommandeur Salman Radujew, einem Schwiegersohn des damaligen gewählten Präsidenten Dschochar Dudajew, ein Krankenhaus besetzt und etwa 3 000 Geiseln genommen, um damit den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien zu erzwingen und die Verletzlichkeit Rußlands zu demonstrieren.

Aber am Samstag wurden alle Beschuldigungen gegen Atgerijew fallengelassen, nachdem sich der russische Premierminister Sergej Stepaschin - der war während des Krieges 1994 bis 1996 Chef des Inlandsgeheimdienstes und somit mitverantwortlich für das Desaster in Tschetschenien - des Falles angenommen hatte. Atgerijews Beteiligung an Radujews Aktion sei nicht ausreichend untersucht, hieß es aus Justizkreisen. Und aus dem Innenministerium verlautete, seine Befreiung sei insbesondere damit verbunden, daß er "für das Innenministerium brauchbare Informationen" gegeben habe. Im März war General Gennadi Spigun in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny entführt worden und ist seither in Geiselhaft. Seit Mitte Juni eskalieren zudem die Auseinandersetzungen an der dagestanischen Grenze zu Tschetschenien.

Was auch immer die Gründe für die Freilassung Atgerijews waren, sie verdeutlicht vor allem das Bemühen Moskaus, die Beziehungen zur tschetschenischen Regierung nicht ganz abbrechen zu lassen. Die Kaukasusrepublik ist Mitglied der Russischen Föderation, im Waffenstillstandsvertrag vom Januar 1997 wurde die Klärung des endgültigen Status der Republik jedoch auf das Jahr 2001 verschoben.

Die tschetschenischen Behörden bezeichneten die Festnahme als Provokation: Durch sie solle ein Treffen zwischen dem russischen Präsidenten Boris Jelzin und seinem tschetschenischen Pendant Aslan Maschadow verhindert werden. Zu dessen Vorbereitung sei Atgerijew nach Moskau gekommen - was wiederum das russische Informationsministerium bestritt.

Maschadow hütete sich, mit öffentlichen Stellungnahmen die Spannungen zwischen beiden Regierungen weiter zu verstärken; schließlich braucht er normale Beziehungen zu Rußland, um endlich finanzielle Unterstützung wie die 1997 versprochene Wiederaufbauhilfe für die vom Krieg verwüstete Republik zu erhalten. Zudem wächst der innenpolitische Druck der diversen Clans auf den Präsidenten, dessen Regierungsgewalt sich kaum noch über Grosnys Stadtgrenzen hinaus erstreckt.

Die im Krieg noch mit Maschadow verbündeten Clanchefs werfen dem Präsidenten eine zu nachgiebige Haltung gegenüber Moskau und Verrat am Islam vor. Da war die Versetzung seiner Grenztruppen in Alarmbereitschaft wohl ein Zugeständnis an innenpolitische Gegner, die seit der Verlegung von 17 000 zusätzlichen russischen Militärs verstärkt Druck ausüben. Nach Angaben des Innenministerium sollen die Soldaten "präventiv" gegen angeblich 5 000 sich im Grenzgebiet zu Dagestan sammelnde Rebellen vorgehen.

Der Machtkampf zwischen Maschadow und den Kriegsherren - insbesondere Salman Radujew, der zum "heiligen Krieg" gegen Moskau aufruft, sowie den ein islamistisches Großtschetschenien unter Einbeziehung Dagestans fordernden Schamil Bassajew - wird längst offen ausgetragen: Im März scheiterte ein Bombenanschlag auf Maschadow nur knapp. Im Februar hatte zunächst Maschadow den Posten des Vize-Präsidenten abgeschafft, einen "Islamischen Staatsrat" gegründet und damit dem Parlament die legislative Macht entzogen. Eine Woche darauf installierten seine Rivalen eine Parallel-Institution auf Basis der islamischen Scharia, unter der es laut Clanchef Mowladi Udugov "keine Worte wie Parlament, Präsident oder Verfassung" geben sollte. Maschadow wurde aufgefordert, dem Gremium beizutreten, unter der Bedingung, daß er sein Amt aufgebe.

Nach Angaben der russischen Zeitung Nezavisimaya Gazeta hat der bei den Wahlen 1996 seinem ehemaligen Kampfgefährten Maschadow unterlegene Bassajew diesen vor etwa zwei Wochen mit Waffengewalt gezwungen, den von Dudajew eingeführten und nach den Wahlen 1997 abgeschafften Nationalen Verteidigungsrat unter Einbindung aller Clanchefs neu zu bilden. Maschadow würde somit nur noch als repräsentatives Staatsoberhaupt fungieren, so die Zeitung. Bassajew, der sich ab Januar 1998 für einige Monate in die Regierung als Ministerpräsident einbinden ließ, hätte damit sein erklärtes Ziel erreicht, Maschadow loszuwerden. Sollte der von Rußland als Terrorist gesuchte Bassajew tatsächlich die Macht in Tschetschenien übernehmen, würde Rußland mit Maschadow den einzigen anerkannten Gesprächspartner verlieren.

Damit wäre auch die Politik Stepaschins gefährdet, den Kaukasus als "lebenswichtigen Teil Rußlands" in der Föderation zu halten. Allerdings sei Tschetschenien mittlerweile ohnehin von den meisten russischen Politikern und Militärs aufgegeben - auch wenn offiziell darauf beharrt wird, daß es weiterhin ein Teil der russischen Föderation ist, so Christoph Zürcher vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin.

Eine Kettenreaktion nach einer eventuellen tschetschenischen Souveränität sei nicht zu erwarten. Die russischen Militäreinsätze an Tschetscheniens Grenzen seien daher keine Drohgebärden gegenüber Republiken wie Dagestan, sondern Reaktionen auf die zunehmenden Übergriffe der Clans auf russisches Territorium, sagte Zürcher gegenüber Jungle World.

Da die Wirtschaft des kriegszerstörten Tschetschenien fast vollständig zusammengebrochen ist, hat sich über ein Netzwerk von Clans ein schwunghafter Handel mit Waffen und Drogen entwickelt. Eine weitere Einnahmequelle stellt das Anzapfen der Ölpipeline aus Kasachstan dar. Zudem floriert die Entführungsindustrie: Über 400 Menschen sollen derzeit in Geiselhaft sein.

Die Islamisierungspolitik, ursprünglich von den Clanchefs gegen Maschadow in Anschlag gebracht, wird mittlerweile von diesem selbst vorangetrieben. Aus den USA stammende Muslime errichteten ein "islamisches Bankwesen", das auf Zinsen verzichtet und nicht funktioniert. Das Bildungssystem ist längst zusammengebrochen, nachdem es allem "weltlichen" Einfluß entzogen wurde. Die Privatisierung des Staates und die Übernahme seiner Funktionen durch die Clans ist im Gange, das Sozialwesen wird von den Clans organisiert. Ohne Rußland ist Tschetschenien kaum überlebensfähig, da es kostenlos sämtliche Energie und einen Großteil der Nahrungsmittel aus der Föderation bezieht.

Die Moskauer Opposition hat wie die Regierung keine kohärente offizielle Haltung gegenüber Tschetschenien entwickelt: Während die KP noch vor kurzem ein militärisches Durchgreifen forderte, tritt sie jetzt für eine völlige Schließung der Grenzen zu Tschetschenien ein, was de facto seinen Ausschluß aus der Föderation bedeuten würde.