Präsidenten nach Proporz

Zwischen syrischer und israelischer Dominanz - der Libanon

Raketen der schiitisch-islamistischen Hisbollah auf Nordisrael, israelische Bomben auf Brücken und Kraftwerke im Libanon - einmal mehr ist in den vergangenen Wochen der Konflikt um den israelisch besetzten Südlibanon eskaliert. Handelt es sich nur um ein letztes Aufbäumen der "Extremisten auf beiden Seiten", bevor es unter der neuen israelischen Regierung zügig in Richtung Frieden gehen wird?

Benjamin Netanyahus Politik gegenüber der arabischen Welt ist keiner strategischen Logik, sondern kurzfristigen innenpolitischen Erwägungen gefolgt. Nicht zuletzt deshalb wurde er abgewählt. Zweifellos wäre auch im Rahmen der Konfrontationslogik eine weniger scharfe Reaktion möglich gewesen, zudem kündigte Netanyahu das 1996 geschlossene Abkommen, in dem sich beide Seiten verpflichtet hatten, keine zivilen Ziele anzugreifen.

Sein Nachfolger, Ehud Barak, will diese Entscheidung nun wieder zurücknehmen. Vor seiner Wahl zum Premierminister hatte er versprochen, die israelischen Truppen binnen eines Jahres aus dem Südlibanon abzuziehen. Um zu einer Vereinbarung mit dem Libanon zu kommen, müssen die 1996 abgebrochenen Verhandlungen mit Syrien, das die libanesische Politik kontrolliert, wieder aufgenommen werden.

Trotz der syrischen Hegemonie ist nicht klar, ob der Hisbollah-Angriff, wie Netanyahu behauptet, von Syrien befohlen wurde. Möglicherweise handelte die Hisbollah eigenmächtig, um ihre besondere Rolle in der libanesischen Politik zu verteidigen. Als einzige Miliz wurde sie 1989, nach dem Ende des Bürgerkrieges, nicht entwaffnet. Stellvertretend für Syrien und unterstützt vom Iran, soll sie kontinuierlich militärischen Druck auf Israel ausüben.

Diese Politik ist, wie libanesische Politiker nach der Bombardierung noch einmal bekräftigten, nationaler Konsens - häufig wird die Hisbollah nur als "der Widerstand" bezeichnet. Ein Friedensabkommen würde die Hisbollah zu einer unter vielen konfessionellen Fraktionen machen; man kann davon ausgehen, daß zumindest Teile der Organisation eine fortdauernde Konfrontation mit Israel vorziehen würden.

Andererseits weiß die Hisbollah-Führung, daß Syrien sich nicht scheuen würde, eine widerspenstige Hisbollah niederzukämpfen, und erklärte wiederholt ihre Bereitschaft, nach einem israelischen Abzug die Waffen niederzulegen. Die Hisbollah ist Teil des konfessionellen Proporz-Systems, das die libanesische Politik strukturiert; sie propagiert offiziell nationale Einheit und das friedliche Zusammenleben der Konfessionen.

Wie die nichtislamistische Amal-Miliz wurde die Hisbollah während des Bürgerkrieges gegründet, um der benachteiligten schiitischen Bevölkerungsgruppe mehr Einfluß zu verschaffen. Die französische Mandatsmacht hatte ein konfessionelles Proporz-System eingeführt, das die Staatsämter nach einem festgelegten Schlüssel zwischen den Konfessionen verteilte und der Bevölkerung auferlegte, nur Kandidaten "ihrer" Konfession zu wählen.

Die christliche Bevölkerungsgruppe, geführt von der Bourgeoisie der Maroniten, einer mit der katholischen Kirche zusammengeführten Konfession, wurde in diesem Proporz bevorzugt. Diese Dominanz entsprach immer weniger den realen Machtverhältnissen, 1975 brach das System zusammen.

Der Bürgerkrieg, in den Israel, Syrien und mehrere westliche Staaten eingriffen, endete 1989 mit dem Abkommen von Ta'if. Syrien hatte durch eine Militärintervention die Bürgerkriegsparteien gezwungen, eine neue Verteilung der Macht zu akzeptieren - eine Einigung, die eben jene politischen Strukturen festigte, die den Bürgerkrieg verursacht hatten. Das konfessionelle Proporz-System wurde in veränderter Form beibehalten.

Wie zuvor muß ein Christ Präsident, ein Sunnit Premierminister und ein Schiit Parlamentspräsident sein, aber der Präsident hat nicht mehr, wie vor dem Bürgerkrieg, fast diktatorische Vollmachten. Die schiitische Bevölkerungsgruppe erhielt ein wenig, die sunnitische deutlich mehr Einfluß. Die Staatsführung wurde zur Zusammenarbeit verpflichtet, was in der Praxis dazu führte, daß ihre Streitigkeiten von Syrien entschieden wurden.

Für Syrien ist das Proporzsystem ein gutes Mittel, um die libanesische Politik zu lenken. Der Oligarchie aller Konfessionen bietet es die Möglichkeit, als Verteiler staatlicher Wohltaten die Bevölkerung an sich zu binden. Überkonfessionelle Parteien, Gewerkschaften und soziale Bewegungen blieben bislang schwach, libanesische Politik ist weiterhin eine Sache der "großen Familien" der Großgrundbesitzer und der Handelsbourgeoisie.

Zur dominierenden politischen Figur entwickelte sich Rafiq Hariri, Premierminister von 1992 bis 1998. Er trat an, den Libanon wieder zu seiner alten Rolle als Finanz- und Handelszentrum der arabischen Welt zurückzuführen - ein von Anfang an unrealistischer Plan. Angesichts der ständigen Drohung eines Krieges blieben die Investitionen dürftig. Banken und Handelsvertretungen hatten sich längst in Kairo und anderswo niedergelassen. Im Unterschied zur Zeit vor dem Bürgerkrieg war eine privatkapitalistisch organisierte Wirtschaft in der arabischen Welt der neunziger Jahre nichts Besonderes mehr.

Hinzu kam die Korruption. Hariris Programm "Horizon 2000" sah Investitionen von zehn Milliarden Dollar, verteilt über zehn Jahre, vor, um Städte und Infrastruktur wieder aufzubauen. Tatsächlich investiert wurde etwa eine halbe Milliarde Dollar jährlich, dennoch wuchs die Verschuldung unter Hariri von zwei auf 18 Milliarden Dollar. Das konfessionelle System kennt keine Trennung zwischen Staats- und Privatgeschäften - Loyalitäten müssen immer wieder neu erkauft werden.

Schließlich entzog Syriens Premier Hariri seine Gunst und setzte auf Emile Lahoud, den ehemaligen Generalstabschef der Armee. Im November 1998 wurde Lahoud zum Präsidenten gewählt, kurz darauf mußte Hariri gehen. Sein Nachfolger wurde Salim Hoss. Ihm fällt die Aufgabe zu, einen Sparkurs durchzusetzen und der Bevölkerung schonend klarzumachen, daß es kein Wirtschaftswunder geben wird.

Damit diese Botschaft nicht allzu unwillig aufgenommen wird, sind die seit 1995 eingefrorenen Gehälter der Staatsangestellten um 20 Prozent erhöht worden. Auch andere Maßnahmen wie die Erhöhung der Unternehmenssteuern und der Zölle auf Luxusgüter deuten darauf hin, daß man einige offensichtliche Ungerechtigkeiten mildern will, um sozialen Unruhen vorzubeugen.

Angesichts der prekären ökonomischen Lage wird sich der Libanon der von Israel als Bestandteil eines Friedensvertrages geforderten wirtschaftlichen Öffnung ebenso widersetzen wie Syrien. Sie würde die libanesische Landwirtschaft und die einträgliche Rolle des Landes als Freihandelszone Syriens gefährden.

Die Strategie der israelischen Arbeitspartei verbindet Kompromißbereitschaft in territorialen Fragen mit dem Versuch, militärische Überlegenheit in ökonomische Dominanz umzusetzen. Die USA unterstützen diese Linie im Rahmen ihres Konzeptes eines "neuen Marktes Naher Osten" und drängen auf stärkere Öffnung der noch überwiegend staatskapitalistisch organisierten syrischen Wirtschaft. Ökonomische Streitpunkte könnten ein größeres Hindernis auf dem Weg zu einem Friedensvertrag werden als territoriale und Sicherheitsfragen.