»Kohl war Keynesianist«

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Matthias Berninger, der zu den Unterzeichnern des Papiers von 40 grünen Funktionsträgern für einen "verantwortungsvollen Liberalismus" zählt

Was ist ein "politisches Dienstleistungsunternehmen"?

Ein "politisches Dienstleistungsunternehmen" ist eine Partei, die anerkennt, daß sie mit ihrer Politik inzwischen vielen gesellschaftlichen Entwicklungen hinterherläuft. Anstatt davon auszugehen, weiter zu sein als die Gesellschaft, sollte sie sich anschauen, welche kritischen Fragen in der Gesellschaft gestellt werden. Die Tatsache, daß ziemlich viele junge Wähler die Grünen in Richtung CDU verlassen, bestätigt, daß wir dieser Generation keine Antworten nahelegen, die für sie verbindlich sind. Wir leben nicht mehr in den achtziger Jahren, wo die Grünen eine Art Avantgardefunktion hatten.

Und wenn man schon nicht mehr Avantgarde einer Bewegung ist, profiliert man sich als neoliberaler Erneuerer?

Nein, das ist eine Unterstellung. Sonst müßte ich für eine Namensänderung plädieren. Das grüne Standbein in der Koalition ist es, uns in Sachen Umwelt durchzusetzen. Erst danach stellt sich die Frage nach den anderen gesellschaftlichen Bereichen.

Wenn Sie Umweltpolitik zum Gradmesser erfolgreicher grüner Politik machen, welche Rolle spielen dann für Sie andere politische Bereiche?

Gleichberechtigung, Ökologie, Zukunfts- oder Generationengerechtigkeit, das sind Werte, die ich aufrechterhalten will. Nur, die Grünen haben ja die Erfahrung gemacht, daß Themen, die früher als modern und innovativ galten, im Moment sehr altbacken daherkommen. Wenn man solche Werte aufrechterhalten will, muß man die Leute dafür auch begeistern können. Und da muß einiges entrümpelt werden, was sich auf dem grünen Dachboden angestaut hat.

Hier soziale Gerechtigkeit, dort der Plan, der FDP das Wasser abzugraben, das klingt absurd.

Ein Beispiel: Es leben über eine Million Kinder von der Sozialhilfe. Für diese besonders benachteiligte Gruppe von Kindern sowie natürlich ihre Eltern hat man bisher zu wenig strukturelle Reformangebote gemacht. Wir müssen uns darauf konzentrieren, von seiten des Staates unterstützende Angebote an die Eltern zu machen, die es ihnen erlauben, besser als bisher Kindererziehung und Erwerbsarbeit unter einen Hut zu bekommen. Hierzu gehören beispielsweise die Einrichtung von Ganztagsschulen, flexibleren Arbeitszeiten, aber auch spezifische Erwerbsangebote für die sozialhilfeabhängigen Eltern. In den USA wurde in diesem Zusammenhang das "welfare to work"-Programm ein Riesenerfolg. So konnten viele von der Abhängigkeit staatlicher Leistungen, die ja bekannterweise dürftig sind, entlassen werden.

Das US-amerikanische "welfare to work"-Programm hat nicht nur dafür gesorgt, daß die Ausgaben des Staates für Sozialhilfe immens gefallen sind, sondern es hat auch Billiglohnjobs und den "working poor" mitgeschaffen - ein klassisch neoliberales Programm also, das zudem auf Zwangsarbeit orientiert ...

Wenn man nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft vertreten muß, ist der Marsch aus dem Verschuldungsstaat absolut notwendig, auch wenn er nach Ihrem Terminus etwas Neoliberales sein wird. Meiner Meinung nach ist er eine Notwendigkeit und sorgt dafür, daß der Staat auch künftig Spielräume hat, um vernünftige Sozial- oder Bildungspolitik zu machen. Wir beschreiten derzeit den Weg aus der Verschuldung, weil wir nicht wollen, daß weiterhin ein Viertel aller Steuereinnahmen für Zinsen ausgegeben wird. Sicher, dieses Haushaltsprogramm widerspricht der klassischen Linken. Deren Position ist aber mit Herrn Lafontaine nach Saarbrücken gezogen und hat in der Bundesregierung nicht mehr den Platz, den sie mal hatte.

Welche Wählerschichten wollen Sie denn erreichen?

Anthony Giddens hat eine große Gruppe in der Gesellschaft als veränderungsbereite Mitte beschrieben - Leute, die sich von niemandem im Parteiensystem richtig angesprochen fühlen. Und diese Mitte will ich mit grünen Vorschlägen erreichen. Übrigens geht Giddens davon aus, daß die Grünen in Deutschland die größte Chance haben, diese Mitte auch zu erreichen.

Von seiten der Gewerkschaften etwa, aber selbst vom Arbeitnehmerflügel der Union wurde das Haushaltsprogramm als Umverteilung in die falsche Richtung kritisiert. Ist der Abschied vom Keynesianismus für Sie endgültig?

Ja, absolut. Der Keynesianismus hatte lang genug bei uns Fuß gefaßt. Das Ergebnis von 16 Jahren Helmut Kohl, der ja im Grunde Keynesianist war, ist eine Steigerung der Staatsverschuldung von 300 Milliarden Mark 1983 auf 1,5 Billionen 1998. Für ein Gemeinwesen ist das auf Dauer nicht erträglich.

Deshalb müssen "alle den Gürtel enger schnallen", wie Ihr Haushaltsexperte Oswald Metzger propagiert. Rechnen Sie noch damit, daß Ihnen Traditionswähler flöten gehen, wenn Sie mit solch restriktiven Haushaltsplänen daherkommen? Beispielsweise aus dem etwas linkeren, kritischen Spektrum?

Ich halte mich für kritisch und links, deshalb muß man natürlich zuerst die Frage stellen, wer eigentlich das linke, kritischere Spektrum ist. Ich wünsche mir von einer kritischen Linken, daß sie die Entscheidung, die Staatsverschuldung massiv zurückzufahren, positiv und offensiv verkauft. Es kann doch nicht deren Politik sein, den Staat handlungsunfähig zu machen.

Also sollte im Namen einer vermeintlichen Linken eine restriktive Haushaltspolitik verteidigt werden, während sich Ihre Partei in anderen Punkten - Stichwort Atompolitik oder Staatsbürgerschaftsrecht - nicht durchsetzen kann?

Den Umfang dessen, was wir durchsetzen, bestimmt der größere Koalitionspartner. Und wir haben ein handfestes Problem im Umweltbereich, das hat man ja beispielhaft bei der Rolle von Herrn Pi'ch bei der Umsetzung der EU-Altauto-Verordnung gesehen. Wir müssen kreativer und listiger werden und uns die richtigen Partner suchen. Die mittelständische Entsorgungswirtschaft beispielsweise, die von der Altauto-Regelung profitiert und neue Arbeitsplätze geschaffen hätte, wäre durchaus ein Partner in der Auseinandersetzung um die rückwärtsgewandte Umweltpolitik des Kanzleramtes gewesen.

Betrachtet man die Politik eines Oswald Metzger oder einer Finanzpolitikerin wie Christine Scheel, die den Mainstream realer grüner Politik charakterisieren, dann stellt sich die Frage, wem sie in Ihrer Partei eigentlich vorwerfen, er halte an alten 68er-Positionen fest.

Die 68er fallen dadurch auf, daß sie, unabhängig vom Alter, zeitlebens in Opposition zu den Regierenden in Bonn waren. Die rot-grüne Koalition ist auch deshalb in einem schlechten Zustand, weil sich eine Reihe von Leuten schon wieder in einer Art Opposition befindet. Große Teile des linken Flügels der Sozialdemokraten und der Grünen wollen eine nicht machbare Mischung: Sie wollen am Opponieren festhalten und gleichzeitig ein bißchen partizipieren und von der Regierung profitieren. Das wird auf Dauer nicht tragfähig sein. So sind die Widersprüche innerhalb der Koalition nicht aufzulösen.